Schweiz

Der letzte Beter macht das Licht aus

Beginnt am Stadtrand von Konstanz, direkt hinter der deutschen Grenze: Kreuzlingen Foto: dpa

Schweiz

Der letzte Beter macht das Licht aus

Kleinstgemeinde Kreuzlingen schließt zum Jahresanfang ihre Pforten

von Peter Bollag  04.01.2016 17:46 Uhr

Sie sind eine Art liebenswürdiger Anachronismus: die jüdischen Kleinstgemeinden in der Schweiz, die gerade einmal aus ein paar wenigen Mitgliedern bestehen. In der Dachorganisation, dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), sind sie nach wie vor repräsentiert.

Bislang galt dieser Status für mindestens vier der insgesamt 17 SIG-Mitgliedsgemeinden. Seit Anfang des Jahres gibt es jedoch nur noch drei Kleinstgemeinden. Die Israelitische Gemeinde Kreuzlingen hat sich zum 31. Dezember aufgelöst. Rolf Hilb, ihr letzter Präsident, hat, wie er sagt, die vergangenen Monate vor allem damit zugebracht, die Gemeinde »sinnvoll« aufzulösen.

Inventar Unerwartet seien dabei viele Synergien entstanden: So ging das Inventar des seit 2009 nicht mehr benutzten Betsaals an das Jüdische Museum in Gailingen, einem kleinen Ort, in dem es früher ebenfalls eine Gemeinde gab. Ein neuer Betsaal konnte dort mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde Kreuzlingen eingerichtet werden. Torarollen fanden bei den liberalen jüdischen Gemeinden in Zürich und Genf sowie auch in Gailingen ihre neue Heimat. Mit der rund 50 Kilometer entfernten liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich wurde vereinbart, dass sie in Zukunft die Tahara (Reinigung und Überführung) der Kreuzlinger Gemeindemitglieder übernimmt.

Gottesdienste wurden in Kreuzlingen zuletzt nur noch viermal im Jahr abgehalten. Dazu kam Rabbiner Tovia Ben Chorin, der seit Kurzem in St. Gallen amtiert, in das Bodenseestädtchen. »Oft waren wir bis zu zwölf Personen, aber vielfach gehörten einige auch anderen Religionsgemeinschaften an«, sagt Rolf Hilb.

Geschichte Kurz vor der Auflösung der Gemeinde hat eine Ausstellung über jüdisches Leben in Konstanz auch an die Juden im benachbarten Schweizer Kreuzlingen erinnert. Die Beziehung zwischen den Gemeinden Konstanz und Kreuzlingen ist historisch gewachsen. Die Gemeinde Kreuzlingen wurde 1939 gegründet, als die Konstanzer jüdische Gemeinde unter starkem Druck der Nazis stand. Schon vorher hatte es unter anderem eine Art Friedhofsgemeinschaft zwischen Juden auf beiden Seiten der Grenze gegeben, da sich die Konstanzer oft nicht mehr in Deutschland begraben lassen wollten.

Als am Vorabend von Rosch Haschana im Betlokal in Kreuzlingen erstmals ein Gottesdienst stattfand, hatte der Zweite Weltkrieg bereits begonnen. Die Arbeit der Kreuzlinger Gemeinde bestand in jenen Jahren bis 1945 nicht zuletzt darin, die Menschen jenseits der Grenze zu unterstützen. An der Deportation vieler Konstanzer Juden im Oktober 1940 konnte man allerdings auch in Kreuzlingen trotz vieler Bemühungen nichts ändern. Die Grenze inmitten der praktisch zusammengewachsenen Stadt war fast unüberwindlich.

Nach der Schoa blieb Kreuzlingen für viele Jahre gewissermaßen die Nachfolgegemeinde von Konstanz, denn dorthin, in die deutsche Stadt jenseits der Grenze, kehrten Juden vorerst nicht mehr zurück. In den ersten Nachkriegsjahren wurden jüdische Rückkehrer, sogenannte Displaced Persons, von der Schweizer Seite aus mitbetreut.

Abwanderung In den vergangenen Jahrzehnten geriet die Kreuzlinger Gemeinde zunehmend unter Druck. Viele aus der jüngeren Generation wanderten in größere Städte ab – ein Phänomen, das auch der benachbarten Gemeinde in St. Gallen nicht erspart blieb. Nun steht zu befürchten, dass demnächst auch die übrigen Schweizer Kleinstgemeinden dem Beispiel Kreuzlingens folgen werden.

Doch die kleinen Gemeinden, die mehr als nur eine Handvoll Mitglieder haben, versuchen sich zu organisieren. So verlangte die jüdische Gemeinde in Biel, die über deutlich mehr Mitglieder als Kreuzlingen und auch über eine Synagoge sowie eine gewisse Infrastruktur verfügt, vor einiger Zeit vom SIG, er solle sich intensiv mit dem Schicksal der Kleingemeinden auseinandersetzen und »dafür auch Geld in die Hand nehmen«.

In diesem Jahr, da die jüdische Gemeinschaft der Schweiz den 150. Jahrestag ihrer Emanzipation feiert, halten viele den Vorstoß für durchaus angebracht.

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