Ben Ferencz

Der Jahrhundertzeuge

Was er erlebte, sollte ihn nicht mehr loslassen: Ben Ferencz Foto: imago/ZUMA Press

Ben Ferencz

Der Jahrhundertzeuge

»Ich wünsche der Welt viel Glück«: Der letzte überlebende Nürnberger Chefankläger feiert 100. Geburtstag

von Sibylle Peine  11.03.2020 08:59 Uhr

»In Ausübung meiner scheußlichen Aufgabe kam ich mir vor wie ein Arzt auf dem Schlachtfeld, ohne Zeit für Gefühle. Ich kann mich nicht erinnern, wütend gewesen zu sein oder gegen Tränen angekämpft zu haben; was ich fühlte, war lediglich eine gefühlsmäßige Taubheit und völliger Unglaube.«

Ben Ferencz hat die Schreckensbilder aus Mauthausen, Dachau oder Buchenwald nie vergessen. Als junger Soldat der US-Armee war er damit beauftragt, Beweismaterial für die Kriegsverbrechen der Deutschen zu sammeln.

lebensthema Was er erlebte, sollte ihn nicht mehr loslassen: »Die Bilder hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck«, schreibt er in seinem berühmten Buch Lohn des Grauens. Die Sühnung der deutschen Kriegsverbrechen wurde zu seinem großen Lebensthema.

Ferencz ist heute der letzte überlebende Chefankläger der Nürnberger Prozesse, von 1947 bis 1948 leitete er die sogenannten »Einsatzgruppen-Prozesse« gegen 24 SS-Führer wegen tausendfacher Morde in der Sowjetunion. Am 11. März begeht der amerikanische Jurist seinen 100. Geburtstag.

Ferencz fügte nicht nur den Begriff »Genozid« in die Gerichtspraxis ein, er gilt auch als einer der Geburtshelfer des Internationalen Strafgerichtshofs.

Die historische Rolle dieses Jahrhundertzeugen geht über die Bedeutung der damaligen Kriegsverbrecherprozesse hinaus. Denn Ferencz fügte nicht nur den Begriff »Genozid« in die Gerichtspraxis ein, er gilt auch als einer der Geburtshelfer des Internationalen Strafgerichtshofs.

den haag Mit fast 90 Jahren eröffnete er 2009 symbolisch das erste Plädoyer der Anklage des Gerichts in Den Haag. Der Historiker und Journalist Philipp Gut hat nun ein lebendiges Porträt des ehemaligen Chefanklägers vorgelegt.

Seine Biografie würdigt nicht nur die große Lebensleistung dieses einzigartigen Zeitzeugen des monströsen 20. Jahrhunderts. Auch der außergewöhnliche Charakter des kleingewachsenen Mannes – Ferencz misst kaum mehr als 1,50 Meter – wird deutlich: Geradlinig und unkorrumpierbar ist er bei allen niederschmetternden Erfahrungen doch immer ein Menschenfreund geblieben.

Dafür steht dieses Zitat: »Den Standpunkt des Mitmenschen zu verstehen, egal, wie sehr du auch von ihm abweichst, ist eine unschätzbare Fähigkeit, die manchmal hilft, das Leben erträglich zu machen.« Auch sein Urteil über das Volk der Täter blieb differenziert: »Ich bin persönlich überzeugt, trotz der Konzentrationslager und anderer Schrecken, deren Zeuge ich wurde, dass es Millionen von Deutschen gibt, die gute Menschen sind.«

siebenbürgen Ferencz wurde 1920 im damaligen ungarischen Siebenbürgen als Sohn orthodoxer Juden geboren. Nach der Emigration der Familie in die USA wuchs er in bescheidenen Verhältnissen in New York auf. Er ergatterte eine Ausbildung an einer der renommiertesten Highschools des Landes, studierte Jura und assistierte dann einem Professor bei einem Buch über deutsche Kriegsverbrechen. Dies wurde zur entscheidenden Weichenstellung für sein Leben.

Kurz nach dem Krieg fanden die Amerikaner einen Leitz-Ordner mit »Ereignismeldungen aus der UdSSR«. Mit deutscher Gründlichkeit waren darin die Verbrechen der SS-Einsatzgruppen gegen Juden, Sinti und Roma sowie russische Kriegsgefangene in der besetzten UdSSR aufgelistet.

Diese Meldungen wurden die Grundlage für den »Einsatzgruppen-Prozess«, den Ferencz als Chefankläger mit gerade einmal 27 Jahren leitete. In keinem anderen Nürnberger Prozess wurden so viele Todesurteile gesprochen – es waren 14, von denen allerdings einige später in Haftstrafen umgewandelt wurden.

Obwohl ihm vier Stents eingesetzt worden sind, macht »der kleine große Mann« noch täglich Sport, er twittert, schreibt E-Mails in alle Welt und hat einen vollen Terminkalender.

komplizenschaft Deprimierend waren die Lügen, Ausflüchte und Entschuldigungen der SS-Männer im Prozess, am schlimmsten aber die Komplizenschaft von Teilen des deutschen Volkes, die die Freilassung der Mörder forderten.

Obwohl das Land ihn bedrückte, blieb Ferencz noch länger in Deutschland: Die Wiedergutmachung enteigneter und geschädigter Juden und Zwangsarbeiter war eine weitere wichtige Aufgabe für ihn. Ferencz lebt heute bei New York und überraschte den Autor noch im vergangenen Jahr mit seiner unglaublichen Vitalität.

Obwohl ihm vier Stents eingesetzt worden sind, macht »der kleine große Mann« noch täglich Sport, er twittert, schreibt E-Mails in alle Welt und hat einen vollen Terminkalender. Vor allem ist er nach wie vor neugierig. »Die Zukunft, getrieben durch die Revolution der Informationstechnologie, ist heute unvorstellbar. Ich bedaure, dass ich nicht mehr so lange auf der Erde herumlungern kann, um zu sehen, wie alles läuft. Ich wünsche der Welt viel Glück!«

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