Großbritannien

Dem Hass die Stirn bieten

Will einen Neuanfang: Keir Starmer Foto: imago images/i Images

Großbritannien

Dem Hass die Stirn bieten

Der neue Labour-Chef Keir Starmer spricht vor den jüdischen Genossen

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  03.12.2020 08:27 Uhr

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie enttäuscht ich über die Worte des ehemaligen Parteivorsitzenden war», erklärte am Sonntag Keir Starmer, seit April Chef der Labour-Partei. Seine Bemerkung galt Jeremy Corbyn.

Dieser hatte am 29. Oktober, kurz nachdem die britische Gleichberechtigungs- und Menschenrechtskommission (EHRC) ihren Bericht über den Antisemitismus in der Partei veröffentlicht hatte, erklärt, der Antisemitismus in der Partei werde überspitzt dargestellt. «Es ist eine Situation, in der ich nicht sein wollte», sagte Starmer vor mehr als 650 zugeschalteten Teilnehmern einer eintägigen «Zoom»-Konferenz der britischen jüdischen Arbeiterbewegung Jewish Labour Movement (JLM).

schritte Seiner Meinung nach würden die nächsten Schritte deswegen schwerer sein. «Ich hatte gehofft, dass der 29. Oktober den Opfern des Hasses gilt. Stattdessen richtete sich alle Aufmerksamkeit auf ihn selbst», bemerkte Starmer, der auf der Konferenz im Gespräch mit der jüdischen Labour-Abgeordneten Ruth Smeeth auftrat.

Bis zum 10. Dezember muss die Partei einen Maßnahmenplan erstellen.
In dem Bericht der EHRC wird festgestellt, dass Labour gegen das britische Gleichberechtigungsgesetz verstoßen hat, indem auf antisemitische Vorfälle nicht adäquat reagiert wurde, ja, dass sich das Büro von Parteichef Corbyn in einige Verfahren sogar persönlich einmischte.

Laut dem Bericht stellen die erwähnten Fälle nur die Spitze des Eisbergs dar. Die Partei müsse jetzt sofort handeln. Labour ist die zweite politische Partei überhaupt, die von der EHRC untersucht wurde – die erste war die britische Nazipartei BNP.

BESCHWERDE Starmer dankte dem JLM für seine Einladung. Es mag als Schritt zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Labour und den britischen Juden verstanden werden, denn die 1903 gegründete Bewegung war Mitkläger der EHRC-Beschwerde gegen die Partei. 2019 hatte sie sogar den Entschluss fassen müssen, Labour bei den Unterhauswahlen nicht zu unterstützen.

Nachdem der Parteivorstand Jeremy Corbyn Ende Oktober für seine Bemerkung, der Antisemitismus werde überspitzt dargestellt, vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen hatte, begannen erneute Angriffe auf jüdische Parteimitglieder.

Zwar wurde Corbyn nach einer Art Entschuldigung am 18. November wieder in die Partei aufgenommen, doch darf er nach wie vor nicht als Labour-Mitglied im Parlament sitzen. So wollte es sein Nachfolger Keir Starmer, dessen Partei sich derzeit beeilt, auf den Bericht der EHRC zu reagieren.

Bis zum 10. Dezember muss die Partei einen konkreten Plan einreichen.

Einer der wichtigsten Punkte darin wird sein, ein unabhängiges Beschwerdesystem aufzustellen sowie ein Bildungsprogramm ins Leben zu rufen, das alle, die in Zukunft eine führende Position in der Partei einnehmen wollen, absolvieren müssten – so Starmers Forderung.

Auf die Frage, wie er es anstellen wolle, dass sich die Dinge ändern, erklärte der Labour-Chef, es gehe darum, von oben eindeutig klarzustellen, welche Art Partei Labour ist.

GLAUBWÜRDIGKEIT «Wir müssen eindeutig sein, dürfen keinen Antisemitismus tolerieren und müssen dementsprechend handeln», forderte Starmer und betonte seine Rolle dabei: «Ich muss die Nulltoleranz anführen», versprach er mehrmals, denn dies sei «ein Kampf um die Seele der Partei». Es gehe hierbei vor allem um Glaubwürdigkeit.

Als einer der Genossen ihn fragte, wann das Mobbing jüdischer Mitglieder enden würde – seit der Kontroverse um Corbyn gibt es zahlreiche erhitzte Diskussionen auf Orts- und Kreisverbandsebene –, beschrieb Starmer zwei verschiedene Typen von Parteimitgliedern: Zum einen gebe es Menschen, die antisemitisch seien, zum anderen jene, die sich einer «Kultur des Nichtwahrhabenwollens» anschlössen. Von ihnen kämen Vorwürfe der Übertreibung und dass es bei Antisemitismusvorwürfen nur um einen Kampf zwischen verschiedenen Flügeln der Partei gehe. Beide Seiten dürften nicht mehr toleriert werden, insistierte Starmer.

«Mein Test, ob die Maßnahmen greifen, ist, ob jüdische Menschen, darunter auch jene, welche die Partei verlassen haben, eine Rückkehr erwägen können oder eine Parteimitgliedschaft beginnen», sagte er, bevor er über generelle politische Themen sprach.

Er erinnerte daran, dass Labour 2019 das schlechteste Wahlergebnis seit 1935 einfuhr, und betonte, er sehe es als seine Aufgabe, die Partei bei den Wahlen 2023 zu einer künftigen Regierungspartei zu machen. «Es wird zwar schwer sein, aber es ist möglich.»

PANEL In einer anderen Veranstaltung im Rahmen der Jahreskonferenz sprach der ehemalige Londoner Labour-Stadtrat Adam Langleben. Er war in den vergangenen Jahren innerhalb der Partei in hohem Maße antisemitisch angefeindet worden, worauf er sich nicht mehr hatte zur Wahl aufstellen lassen. In seinem Panel ging es um die Frage, weshalb die Situation in der Partei derzeit so geladen sei.

«Die Linke will nicht akzeptieren, dass der Antisemitismus genau in dem Moment zunahm, als sie glaubte, dass ihre Politik Erfolg hatte, ja, sich auf der Überholspur befand», erklärte Langleben.

Langleben und andere sagten, es gebe in der Partei ein großes Missverständnis: Man nehme an, es gehe derzeit um Corbyn und nicht um die Ergebnisse des EHRC-Berichts. «Sie können diese Diskussion nicht ertragen, weil es einen Teil ihrer Politik zerstört.» Doch sei er zuversichtlich, sagte Langleben, denn er habe das Gefühl, dass die Parteispitze und die meisten Mitglieder die Lage verstehen und ein richtiges Vorgehen unterstützen.

Dass dies nicht alle betrifft, zeigte am Tag zuvor eine Veranstaltung der linken Bewegungen Momentum und Arise. Dort sprachen Mitglieder der sozialistischen Gruppe innerhalb der Fraktion zur Verteidigung Jeremy Corbyns. Über den Antisemitismus und den Bericht der EHRC schwiegen sie größtenteils. Stattdessen hoben sie Corbyns Errungenschaften hervor.

Iberia Airlines

»Free Palestine«-Kritzeleien auf koscheren Mahlzeiten

Jüdische Passagiere bekamen auf einem Flug von Buenos Aires nach Madrid Lebensmittel mit antiisraelischen Botschaften serviert

von Michael Thaidigsmann  05.08.2025

Tourismus

Antisemitismus: Israelische Urlauber meiden Orte in Westeuropa

Der sich verbreitende Antisemitismus verändert das Urlaubsverhalten. Wohin fliegen Juden in den Ferien?

 05.08.2025

Porträt der Woche

Historikerin aus Leidenschaft

Shiran Shasha forscht zu antiken Gärten und sammelt Geld für eine Synagoge auf Kreta

von Gerhard Haase-Hindenberg  03.08.2025

Frankreich

Sie feierte den 7. Oktober - und bekam doch ein Stipendium

Eine 25-jährige Palästinenserin wurde aus Gaza nach Frankreich gebracht, wo sie einen Master-Studiengang absolvieren sollte. Doch dann wurden ihre antisemitischen Posts auf X bekannt

von Michael Thaidigsmann  01.08.2025

Justiz

Jüdische Organisationen fordern von Israel Gesetz gegen weltweiten Antisemitismus

In einem Brief an Justizminister Yariv Levin verlangen sie, das Judenhass und die Verfolgung israelischer Soldaten auch außerhalb Israels unter Strafe gestellt werden

 01.08.2025

Nach Festnahme bei Festival

Belgische Staatsanwälte treten Ermittlungen gegen Israelis ab

Zwei Soldaten waren in Belgien festgenommen und verhört worden, bevor sie wieder frei kamen. Jetzt haben die Ermittler den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof übergeben

 31.07.2025

Vor 100 Jahren

Als der Ku-Klux-Klan durch Washington marschierte

Vor 100 Jahren sahen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus anders aus als heute in der Ära Trump: Im August 1925 versammelte sich der Ku-Klux-Klan zu seinem größten Aufmarsch in der US-Hauptstadt Washington

von Konrad Ege  31.07.2025

Jemen

Eine der letzten Jüdinnen Jemens geht nach Israel

Mit Badra Ben Youssef hat ein letztes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft den Jemen verlassen. Möglicherweise ist nur noch ein Jude im Land, ein Gefangener der Huthi-Rebellen

 31.07.2025

USA

Von Sammlern und Buchschmugglern

Das YIVO in New York feiert sein 100-jähriges Jubiläum mit einer Sonderausstellung. Das Institut bewahrt die jiddische Kultur und pflegt ein beeindruckendes Archiv. Ein Besuch

von Jörn Pissowotzki  31.07.2025