"Das Ich und das Es"

Meilenstein der Psychoanalyse

Sigmund Freud im Jahr 1922 Foto: picture alliance / opale.photo

"Das Ich und das Es"

Meilenstein der Psychoanalyse

Freuds viel diskutiertes Werk bleibt auch nach genau 100 Jahren von zentraler Bedeutung

von Paula Konersmann  24.04.2023 08:18 Uhr

Sigmund Freud (1856-1939) ist bis heute ein entscheidender Referenzpunkt, wenn es um die menschliche Seele geht. Der Wissenschaftler und Nervenarzt stellte komplexe Phänomene in anschaulichen Bildern dar und entwickelte Methoden, die eine Grundlage vieler Therapien bleiben. Er begründete die moderne Psychoanalyse - wörtlich übersetzt: »Untersuchung der Seele«.

Zu Freuds bekanntesten Modellen gehört die Strukturierung der Psyche in drei Instanzen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Dies beschrieb er in einer Schrift, die vor genau 100 Jahren erschien, am 27. April 1923 - Titel: »Das Ich und das Es«.

Drei Instanzen Spätestens seit dem Vorjahr hatte sich Freud mit dieser Thematik befasst, und er sollte sie während der 30er Jahre weiter aus- und überarbeiten. Seine grobe Unterteilung der Psyche in die drei Instanzen blieb jedoch bestehen.

Von der Außenwelt abgeschnitten ist demnach das Es, das - dem Lustprinzip folgend - die organischen Triebe umfasst, die auf Befriedigung drängen. Im Zusammenspiel von Es und Außenwelt entsteht wiederum das Ich, das sich auf das Denken stützt. Herausgefordert ist das Ich nicht allein davon, einen Ausgleich zwischen den Begehrlichkeiten des Es und den Möglichkeiten der Außenwelt zu schaffen. Sondern auch durch das Über-Ich: Diese Instanz, auch »Ich-Ideal« genannt, entwickelt sich laut Freud durch die Identifizierung mit den Eltern, fungiert also als eine Art Gewissen und weist das Ich auf Fehltritte hin.

Das Modell basiert auf Freuds Grundannahme, dass die Psyche aus zwei Teilbereichen besteht: dem Verdrängenden und dem Verdrängten. Das Verdrängte - Teile des Es - will wahrgenommen werden und konkrete Wirkung erzielen. Dafür nutzt es das Über-Ich als eine Art Fürsprecher der Innenwelt. Das Es wirkt also auf zweierlei Weise auf das Ich: einerseits unmittelbar über die Triebe, andererseits über das Ich-Ideal. Das Ich steht damit unter dreifachem Einfluss: der Außenwelt, des lustgesteuerten Es und des strengen Über-Ichs. Freud nennt das Ich die »eigentliche Angststätte«.

Innerer Kritiker Denn die beschriebenen Prozesse vollziehen sich zumeist unbewusst - und sie können zu Problemen führen. Zum Beispiel dann, wenn das Über-Ich für Schuldgefühle sorgt. Psychologinnen und Psychologen sprechen heute vom »inneren Kritiker«, der wie ein strenger Vater oder eine nörgelnde Mutter auftritt. In Therapien geht es vielfach darum, sich über diese Muster klarzuwerden - und in den konkreten Situationen aktiv wahrzunehmen, wie man reagiert. Erst nach diesen ersten Schritten werden allmählich Änderungen möglich. Auch in der Erziehung spielt die Frage, wie liebevoll oder kritisch mit dem Verhalten eines Kindes umgegangen wird, eine zentrale Rolle.

Freud befasste sich also durchaus mit großen Fragen der Menschheit - auch jener nach Schuld und Reue. Die Religion sah er allerdings höchst kritisch. Im Zusammenhang mit der Frage, warum Menschen an Gott glauben, las er religionskritische Schriften von Philosophen wie Karl Marx und Ludwig Feuerbach. Deren Gedanken griff er auf seine psychoanalytische Weise auf: Menschen, die einer Religion anhängen, seien im Grunde Kinder geblieben, die »wie ein Kind an seinem Vater hing, so dann an dem Gott hängen«, erklärte der Psychoanalytiker Herbert Will die Sichtweise Freuds einmal im Deutschlandfunk.

Aufgewachsen als Jude, der immer wieder auch Antisemitismus erlebte, brach Freud als Erwachsener mit den Riten dieser Religion. Er warb für eine humanistische Haltung: So sollten religiöse Gebote den Menschen nicht beherrschen, sondern dienten vielmehr seinem eigenen Interesse. Würde der Mensch zu diesen Regeln ein »freundliches Verhältnis« gewinnen, wäre dies »ein wichtiger Fortschritt«, schreibt Freud.

Nicht nur Widersprüche in seinem Werk sorgten schon zu seinen Lebzeiten für Kritik, sondern auch Aussagen Freuds zu sexualisierter Gewalt oder zu (vermeintlichen) psychischen Besonderheiten von Frauen. Viele von ihm geprägte Begriffe - etwa »Narzissmus« oder »Fixierung« - sind heute dennoch Allgemeingut. Ebenso bleibt die Frage, die ihn zeitlebens umtrieb, zeitlos: danach, wie Menschen werden, was sie sind.

Russland

Die Angst vor den Worten

Alla Gerber ist mit 93 Jahren immer noch eine gewichtige Gegenstimme in Putins Reich. Ein Besuch bei der Moskauer Journalistin und Publizistin

von Polina Kantor  28.08.2025

Shlomo Graber anlässlich eines Vortrags in einer Schule in Rosenheim im Jahr 2017.

Nachruf

Der Junge mit der Nummer 42649

Mit Shlomo Graber ist einer der letzten Holocaust-Überlebenden der Schweiz im Alter von 99 Jahren verstorben

von Nicole Dreyfus  27.08.2025

Atlanta

Woody Allen verteidigt Auftritt bei Moskauer Filmfestival

In einem CNN-Interview legt der Regisseur und Schauspieler dar, warum er an dem russischen Event teilnahm

 27.08.2025

Cerro Pachón

Vera Rubin Observatory startet wissenschaftliche Mission  

Die nach einer jüdischen Wissenschaftlerin benannte Sternwarte auf einem Berg in Chile läutet eine neue Ära der Astronomie ein

von Imanuel Marcus  27.08.2025

Paris

Wegen Brief zu Antisemitismus: Frankreich bestellt US-Botschafter ein

Weil er den französischen Behörden Versäumnisse im Vorgehen gegen Judenhass vorgeworfen habe, soll Charles Kushner heute im Außenministerium erscheinen

 25.08.2025

Frankreich

Freizeitpark-Chef verwehrt israelischen Kindern den Zutritt

Der Betreiber des Parks hatte 150 israelische Kinder weggeschickt. Nun wurde er wegen Diskriminierung angeklagt. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft

 24.08.2025

Literatur

Vitaler Verteidiger der Freiheit

Zu seinem 96. Geburtstag beschenkt der wachsame Jahrhundertzeuge Paul Lendvai seine Leser mit einem neuen Buch

von Marko Martin  24.08.2025

Norwegen

Die nördlichste Synagoge der Welt

In Trondheim feiert die Gemeinde ihr hundertjähriges Bethaus. Zum Glück ist die Schabbat-Frage schon lange geklärt

von Elke Wittich  24.08.2025

Raubkunst

Drei Millionen Franken für Bührle-Stiftung

Die Stadt Zürich beantragt Kredit für vertiefte Provenienzforschung der Sammlung Bührle

 22.08.2025