Kolumbien

Clean und sicher

Es ist schon ein paar Monate her: Mehrere hundert Gemeindemitglieder und Gäste sind versammelt, als Sofer Stam, der Schreiber religiöser hebräischer Texte, die letzten Worte in die neue Torarolle einträgt. Dann beginnt Alfredo Goldschmid, der Oberrabbiner der Gemeinde Centro Israelita de Bogotá, auf seinem Akkordeon zu spielen und stimmt hebräische Lieder an. Während die neue Sefer Tora im überfüllten Gemeindesaal feierlich herumgereicht wird, halten vier junge Männer vom Jugendbund »Kinneret« schützend eine Chuppa über sie.

Die Anschaffung einer weiteren Torarolle für das Gemeindezentrum ist Ausdruck des Optimismus, der seit einigen Jahren in der jüdischen Gemeinde in Bogotá herrscht. Noch vor einem Jahrzehnt war die Sicherheitslage in Kolumbien sehr angespannt und unberechenbar.

Drogenkriege erschütterten das Land, und die verschiedenen Guerillagruppen schreckten auch vor Gewalt gegen Unbeteiligte nicht zurück, etwa gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Insbesondere Geschäftsleute wurden Opfer von Entführungen, Angriffen und Morden. Dies und die instabile wirtschaftliche Situation trugen dazu bei, dass bis zum Jahr 2000 schätzungsweise ein Drittel der Juden das Land verließ.

Heute ist von der prekären Lage nur noch wenig zu spüren. Álvaro Uribe, kolumbianischer Präsident von 2002 bis 2010, hat hart gegen die Guerillaorganisationen durchgegriffen und dadurch die Sicherheit im Land stark verbessert. Die Kolumbianer trauen sich wieder auf Auto- und Busreisen zwischen den Städten. Der Tourismus hat zugenommen, und auch die jüdische Gemeinde verzeichnet ein Wachstum.

»Die jüdischen Kolumbianer im Studentenalter bleiben hier, junge Paare heiraten wieder vermehrt, und ein Teil der Auswanderer kehrt zurück«, sagt die 24-jährige Studentin Janine Roitman. Aber ein Großteil der heute rund 30-Jährigen habe vor etwa zehn Jahren das Land verlassen. »Diese Altersgruppe fehlt heute in der Gemeinde«, bedauert sie. Für Juden in diesem Alter, die geblieben sind, sei es deshalb schwierig, innerhalb der Gemeinde einen Partner zu finden.

Situiert In Kolumbien leben heute rund 4.000 Juden, davon etwa 2.500 in Bogotá. Trotz ihrer bescheidenen Mitgliederzahl ist die Gemeinde in der Hauptstadt sehr aktiv: Neben den zahlreichen Synagogengemeinden gibt es unter anderem Schulen, einen Jugendbund, ein Chabad-Haus und eine Studentenorganisation.

Die Rate der interreligiösen Ehen ist, verglichen mit der in anderen Ländern, niedrig. Sie beträgt rund zehn Prozent. Wirtschaftlich geht es der Gemeinde ziemlich gut, die meisten Mitglieder sind für kolumbianische Verhältnisse gut bis sehr gut situiert. Jüdische Familien besitzen heute einige der größten Unternehmen des Landes. Doch es gibt auch Armut. »Ein Teil der Gemeinde ist auf Hilfe angewiesen, vor allem ältere Menschen ohne Erspartes und geschiedene Frauen brauchen Unterstützung«, sagt Rabbiner Goldschmid.

Nicht überall im Land ist die jüdische Gemeinschaft so stark, aktiv und engagiert wie in Bogotá. In anderen Ortschaften Kolumbiens schrumpfen die Mitgliederzahlen der Gemeinden. Früher gab es in Medellín und Barranquilla größere Gemeinschaften. Heute haben in diesen Städten nur noch rund 30 Prozent der Kinder in den jüdischen Schulen einen jüdischen Hintergrund. »Frische Ideen sind in den Gemeinden außerhalb der Hauptstadt gefragt«, sagt Goldschmid.

Zuwanderer An der Feier für die neue Sefer Tora nehmen auch einige Juden aus Venezuela teil. Sie haben das Land wegen des Antisemitismus der Regierung Chávez verlassen und sind ins benachbarte Kolumbien geflohen. Ein ursprünglich aus Israel stammender Mann, der viele Jahre in Venezuela gearbeitet hat und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt, Venezuela sei allgemein sehr gefährlich. »Für Juden ist es wegen der anti-israelischen und antisemitischen Politik der Regierung noch schwieriger als für den Rest der unterdrückten Bevölkerung. Viele verlassen deshalb das Land«, meint er.

In Venezuela beeinflusse die Regierungspropaganda in der Bevölkerung auch die Meinung über Juden. Rund 40 Prozent der venezolanischen Juden sind in den vergangenen Jahren ausgewandert, die meisten nach Panama, Costa Rica und Florida, einige nach Kolumbien.

Bei der Feier zur Einbringung der Torarolle hält der ursprünglich aus New York stammende Chabad-Rabbiner Yehoshua Rosenfeld eine Abschlussrede und spricht wohl vielen seiner Zuhörer aus dem Herzen: »Wir müssen dankbar sein, wir leben in einem Land, in dem wir Glaubens- und Kultusfreiheit haben, in dem wir Tora lernen und jüdische Institutionen führen können.« Die Gemeinde weiß aus eigener Erfahrung, dass es auch anders sein kann.

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