USA

Chassidim gegen Latinos

Demonstration gegen die Schulkürzungen Foto: AP

Der Konflikt schwelt seit Jahren. Hin und wieder schlagen kleine Flammen hoch, dann köchelt der Konflikt heimlich im Untergrund weiter. Es gibt zwei Weisen, von ihm zu erzählen: eine offenkundige und eine gar nicht so offenkundige.

Die Geschichte spielt in East Ramapo rund eine Autostunde nördlich von New York. In dem Städtchen leben viele Satmarer Chassidim. Sogar innerhalb der chassidischen Welt sind sie für ihre Strenge bekannt. So war ihr Rebbe Mosche Teitelbaum schon vor dem Holocaust überzeugt davon, dass fromme Juden sich von der säkularen Welt und ihren falschen Heilsversprechen fernhalten müssten. Teitelbaum, ein strammer Antizionist, pflegte zu sagen: »Wenn in einer Stadt keine verworfenen Juden leben, wäre es gut, ein paar zu bezahlen, damit sie dort hinziehen. Damit die guten Juden etwas haben, wovon sie sich unterscheiden können.«

Parallelgesellschaft In den Schulen der Satmarer werden kaum säkulare Fächer unterrichtet, es gibt dort beinahe nur Tora und Talmud. Aussteiger berichten, dass sie nach Jahren in einer Satmarer Jeschiwa keinen blassen Schimmer hatten, was eigentlich unter der amerikanischen Verfassung zu verstehen sei. Eine Parallelgesellschaft.

Viele Satmarer Familien leben unterhalb der Armutsgrenze, in manchen Gegenden sogar die Mehrheit. Die Gemeinschaft ist für die Armen das Einzige, was sie ökonomisch über Wasser hält. Es ist üblich, dass die frommen Frauen, wenn sie einkaufen gehen, anschreiben lassen – und diese Schulden kontinuierlich immer wieder getilgt werden, weil reiche Spender für sie einspringen.

Noch ein Detail ist erwähnenswert, damit man die Geschichte, die hier erzählt werden soll, besser versteht: In der vergangenen Generation hat sich die Haltung der meisten Satmarer Chassidim zu behinderten Kindern geändert. Früher wurden sie schamhaft versteckt, heute sorgt man eher dafür, dass sie besondere Schulen besuchen. Das ist teuer, also versucht man, sie von der öffentlichen Hand finanzieren zu lassen.

In East Ramapo leben nicht nur Satmarer. Die Stadt ist auch das Zuhause von vielen Einwanderern aus der Karibik und Lateinamerika. Die meisten Schüler dort – nach Angaben der New York Times sind es etwa 19.000 – besuchen private Schulen. Eine Minderheit von rund 8000 Schülern aber ist auf die öffentlichen Schulen angewiesen. Und die Mehrheit der Schüler an jenen öffentlichen Schulen (85 Prozent) sind Schwarze und Latinos.

Da die Satmarer Chassidim bei Wahlen ihre Stimmen als geschlossener Block abgeben, ist es ihnen schon vor Jahren gelungen, die Schulaufsichtsbehörde in ihrem Distrikt in East Ramapo unter ihre Kontrolle zu bringen – auch wenn ihre Kinder Privatschulen besuchen. Sieben von neun Positionen der Schulaufsicht wurden vergangenes Jahr von orthodoxen Juden gehalten.

Aus dieser Position heraus begannen die Satmarer, das Geld für die öffentlichen Schulen dramatisch zusammenzustreichen: Lehrer wurden entlassen, der Stundenplan an der Highschool schrumpfte, es gab mehr Freistunden als Unterricht, Wachpersonal wurde drastisch eingespart, sodass die öffentlichen Schulen gefährlich wurden. Vielen der schwarzen und Latinokinder war es nicht mehr möglich, ihre Abschlüsse zu machen. Und spätestens hier ist nun der Punkt erreicht, an dem man die Geschichte auf zwei Arten deuten und erzählen kann.

Proteste Die offenkundige Lesart: Ein Haufen chassidischer Juden übernimmt einen Schuldistrikt und ruiniert ihn ohne Rücksicht. Das »New York Magazine« zitiert Tendriana Alexandre, eine ehemalige Schulsprecherin der Spring Valley High School: »Als junger Mensch hört man ›Jude‹ und denkt automatisch: Oh, die wollen meinen Schuldistrikt umbringen. Die Aufsichtsbehörde sind alles chassidische Juden, ein Fall von: sie gegen uns.« Die Eltern der Schüler sind erbost und organisieren wütende Proteste gegen die Männer mit den Hüten und den schwarzen Anzügen.

Die andere, weniger offenkundige Lesart geht so: Die Satmarer Chassidim repräsentieren schlichtweg die demokratische Mehrheit. »Wir sind gewählt worden, in einer fairen Wahl«, sagt Yehuda Weissmandl, ein junger Mann mit Kippa und langem schütterem Bart. Die Satmarer haben legitime Anliegen; sie nehmen die Interessen der Schwächsten in ihrer Gemeinschaft wahr. Weissmandls eigene Nichte leidet an einer seltenen Erbkrankheit. »Ich höre jeden Tag von solchen Fällen«, sagt er. Mit Geld für öffentliche Schulen ist solchen Kindern nicht zu helfen, also wird es in andere Kanäle umgeleitet.

Der Streit kulminierte in einer Rede, die Daniel Schwartz vor einem Jahr hinter verschlossenen Türen hielt. Schwartz ist ein orthodoxer Anwalt, der damals Vorsitzender der Schulaufsicht war. Seine Rede wurde als »Wutanfall« legendär. Schwartz soll gesagt haben: Volksschüler erzählten ihren Lehrern, dass sie Juden hassten.

Wohnort Dann zitierte er den heiligen Augustinus, der gemeint habe, Juden könnten nur toleriert, aber niemals akzeptiert werden, eine Haltung, die laut Schwartz in Auschwitz zum Ausdruck kam und noch heute in East Ramapo lebendig sei. Die Chassidim würden jedenfalls nicht aus dieser Gegend und diesem Schuldistrikt verschwinden. »Das gefällt Ihnen nicht?«, fragte Schwartz rhetorisch. »Dann suchen Sie sich doch einen anderen Wohnort.«

Es hat solche ethnischen Querelen in der amerikanischen Geschichte öfter gegeben. Politikwissenschaftler sprechen vom »Curley-Effekt«, der nach James Michael Curley benannt wurde, der Boston von 1913 an jahrzehntelang als Bürgermeister regierte. Curley war Katholik irischer Abstammung, der die »Wasps« – die »weißen angelsächsischen Protestanten« – zutiefst verabscheute.

Solange er im Amt war, tat er alles, um die »Wasps« zu vertreiben, und war dabei äußerst erfolgreich. So ließ er die Wohnviertel der Iren sanieren und jene der Protestanten verfallen. Er schaufelte den Reichtum mithilfe der Steuergesetzgebung von den »Wasps« zu seinen eigenen Leuten hinüber und verhöhnte sie. Viele Wasps gaben auf und zogen in die Vororte. Dies war die Rache des Underdog: Zuvor hatten nämlich die weißen Protestanten die Elite gestellt, während die irischen Katholiken eine bespuckte Kaste bildeten.

In East Ramapo kann man jetzt einen vergleichbaren Konflikt beobachten, eine jüdische Variante des Curley-Effekts. Nur stoßen die Underdogs hier nicht mit einer ehemaligen Elite, sondern mit anderen Underdogs zusammen. Der Philosoph Hegel hätte diese Konstellation tragisch genannt.

München/Gent

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