Türkei

Bis der Sturm vorüberzieht

»Nieder mit Israel«: Hassparolen bei Straßenprotesten in Istanbul Foto: Reuters

Türkei

Bis der Sturm vorüberzieht

In der aktuellen Krise geht die Gemeinde aus Angst in Deckung

von Thomas Seibert  07.06.2010 16:21 Uhr

Die Reaktion kam schnell. Kurz nachdem die ersten Bilder vom Angriff israelischer Soldaten auf das mit vorwiegend türkischen Gaza-Aktivisten besetzte Schiff »Mavi Marmara« im östlichen Mittelmeer von türkischen Fernsehsendern ausgestrahlt wurden, versammelten sich die ersten Demonstranten vor dem israelischen Konsulat in Istanbul. Noch bevor die internationale Öffentlichkeit so richtig wusste, was geschehen war, flogen in Istanbul die ersten Steine auf das Konsulatsgebäude. Die türkische Polizei schlug die Menge mit Wasserwerfern und Reizgas zurück.

Auch die jüdische Gemeinde in der Türkei meldete sich rasch zu Wort. »Wir teilen die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese Operation und bringen unsere große Trauer zum Ausdruck«, hieß es in einer schriftlichen Erklärung der Gemeinde. Prominente jüdisch-türkische Geschäftsleute wie der Unternehmer Ishak Alaton kritisierten die israelische Aktion ebenfalls. Manche jüdischen Beobachter außerhalb der Türkei vermuten, dass diese pro-türkischen Stellungnahmen ein Hinweis darauf sind, dass die jüdische Gemeinschaft des Landes Angst vor Repressalien hat.

dilemma Für viele der rund 25.000 Juden in der Türkei sind die jüngsten Spannungen zwischen Ankara und Jerusalem nicht nur deshalb ein Unheil, weil Menschen getötet wurden und die ohnehin belasteten Beziehungen zwischen den beiden Ländern in eine neue Krise geschlittert sind. Sie befinden sich in einem Dilemma zwischen ihren Gefühlen für Israel einerseits und ihrem Leben als türkische Staatsbürger andererseits. Und sie befürchten neue Gewaltaktionen von militanten Antisemiten im Land.

Die offizielle Vertretung der türkischen Juden traf in dieser schwierigen Lage eine eindeutige Entscheidung: Kopf einziehen, bis der Sturm vorbei ist. Sie beschloss, sich vorerst nicht mehr öffentlich zu dem Thema zu äußern. Je weniger öffentliche Aufmerksamkeit sich derzeit auf die türkischen Juden richtet, desto besser.

erinnerung Kein türkischer Jude hat den November 2003 vergessen. Damals sprengten sich türkisch-islamistische Selbstmordattentäter vor zwei Istanbuler Synagogen in die Luft. Bei der Anschlagsserie, die sich auch gegen das britische Konsulat und eine britische Bank in der Metropole richteten, starben mehr als 60 Menschen.

Während des Gaza-Kriegs im vergangenen Jahr klagten israelische Diplomaten in der Türkei über eine neue Welle des Antisemitismus. Israels Botschafter Gaby Levy wurde bei Besuchen in der türkischen Provinz von den regionalen Behörden derart unfreundlich behandelt, dass sich Regierungschef Erdogan telefonisch aus Ankara einschaltete und seine Bürokraten zusammenstauchte.

Auch in der jüngsten Krise ist die Regierung darauf bedacht, den Eindruck zu vermeiden, dass Juden in der Türkei nicht willkommen oder nicht sicher sind. Eine potenziell militante antisemitische Stimmung in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung soll im Keim erstickt werden.

Sicherheit Erdogan selbst verbindet seine Kritik an Israel stets mit dem Hinweis, die Verärgerung der Türkei richte sich nicht gegen die Juden im Land oder in Israel, sondern einzig und allein gegen die Jerusalemer Regierung. Die türkischen Juden stünden unter dem Schutz des Staates, Antisemitismus sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sagte Erdogan seit der vergangenen Woche mehrmals. Auch erinnerte er daran, dass der türkische Sultan im 15. Jahrhundert die von der spanischen Inquisition verfolgten Juden aufnahm.

Innenminister Besir Atalay ließ vorsorglich die Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Einrichtungen verstärken. Es werde alles getan, um die Sicherheit der jüdischen Bürger zu garantieren, sagte er zwei Tage nach dem israelischen Angriff auf die Gaza-Schiffe. Ausschreitungen gegen Juden oder Synagogen gab es bisher nicht.

Doch die Unsicherheit bleibt. Zwar sei es tröstlich zu sehen, wie Politiker von Regierung und Opposition sich für die Juden einsetzten und die Türken davor warnten, ihre Wut auf Israel an den jüdischen Mitbürgern auszulassen, kommentierte die jüdische Zeitung »Schalom«. Aber das ändere nichts daran, dass den türkischen Juden »Tage voller Unsicherheit« bevorstünden.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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