Manchen gilt Hannah Arendt als »Denkerin der Stunde«. In dieser Lesart zeugen ihre Texte von einer »unheimlichen zeitgenössischen Relevanz«, was Themen wie Antisemitismus, Staatenlosigkeit oder Totalitarismus angeht. Der berühmte Satz von der »Banalität des Bösen« wird häufig zitiert - aber nicht unbedingt im Sinne der Autorin. Ein Effekt dieser Aktualität besteht darin, dass sich einige ihrer Schriften inzwischen auch im gängigen Sortiment von Buchhandlungen finden.
Auf den Film »Hannah Arendt: Facing Tyranny« von Jeff Bieber und Chana Gazit durfte man also gespannt sein, zumal die zweite Amtszeit von US-Präsident Donald Trump und die Entwicklung in Nahost durchaus Bezüge zum engeren Themenspektrum Arendts aufweisen. Das Erste zeigt die Doku am 1. Dezember um 23.35 Uhr; drei Tage vor dem 50. Todestag der Publizistin.
Hannah Arendt (1906-1975) gilt als Intellektuelle mit streitbaren Thesen, die Anteil an zentralen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts hatte - und auch selbst provozierte. Der Film macht aus ihrem Denken aber nicht viel mehr als einen illustrierten Lexikonartikel mit Laufbildern aus den Archiven, unterfüttert mit Statements von Fachleuten und der Stimme von Schauspielerin Nina Hoss.
Wie im Schulfernsehen
Wie im Schulfernsehen älteren Datums werden die Stationen der Biografie der Denkerin mit geschichtlichen Ereignissen verknüpft - was legitim ist, jedoch zu Trivialisierungen neigt. Etwas dergestalt, dass - just als Arendt 1924 in Marburg ein Studium der Philosophie, der Evangelischen Theologie und der Gräzistik aufnahm - weiter südlich der Aufstieg Adolf Hitlers begann.
Weitere Stationen, die abgehakt werden: die Affäre mit Martin Heidegger, Promotion über den Liebesbegriff bei Augustinus, Arbeit als Journalistin in Berlin. Beschäftigung mit Rahel Varnhagen von Ense und der »Judenfrage«, die Machtübernahme der NSDAP und das Versagen opportunistischer Intellektueller - wie Heidegger. Exil in Frankreich, Engagement in zionistischen Organisationen, die jüdischen Jugendlichen die Flucht nach Palästina ermöglichten, Inhaftierung, Immigration in die USA, Staatenlosigkeit. Der Israel-Palästina-Komplex, der Eichmann-Prozess, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Vietnamkrieg und schließlich die »Watergate«-Affäre sowie der Rücktritt Richard Nixons 1974.
Aktuelle Bezüge bleiben Randnotizen
Nun ist der Versuch, eine Biografie nebst einer Vielzahl an Begegnungen mit Zeitgenossen sowie verschiedene Zeitströmungen filmisch auf rund 90 Minuten unterzubringen, an sich schon ein ambitioniertes Unterfangen. Aber dann soll es ja auch noch darum gehen, Arendts »gefährliches Denken« auf aktuelles Geschehen zu beziehen. Das gelangt nicht über Fußnoten hinaus, wenn es etwa heißt, dass die derzeitige Gefährdung der US-amerikanischen Demokratie von der Exekutive ausgehe.
Was den Film, abgesehen von der etwas überfrachteten Tonspur mit vielen kurzen Off-Kommentaren, dagegen ernsthaft beschädigt, ist das Beharren auf einem »Flow« in der Montage. Hier wechseln sich stimmige Dokumente aus dem Archiv mit Material ab, das scheinbar wahllos aus unterschiedlichsten Kontexten herausgerissen wurde. Das kann abstrakt ausfallen, wenn der Antisemitismus in Frankreich nach 1933 mit zwei Besucherinnen eines Pariser Cafés illustriert wird.
Propaganda-Bilder mittendrin
Unangenehmer wird es, wenn die Auswahl der Bilder chronologisch nicht eindeutig situiert ist, sondern gänzlich unhistorisch als Illustration dient - oder Bilder aus dem NS-Propagandafilm »Der ewige Jude« plötzlich und unkommentiert in den Bilderfluss montiert werden. Wie unproduktiv dieses Vorgehen ist, wird besonders deutlich, wenn längere Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Hannah Arendt und Günter Gaus von 1964 ungleich mehr Intensität entfalten.
»Hannah Arendt - Denken ist gefährlich« kann als erste Begegnung mit dieser schillernden Figur der Zeitgeschichte als Einführung dienen. Zugleich muss der Film aber kritisch auf sein eigenes Vorgehen hin befragt werden, der das »streitbare und gefährliche Denken« in einen marktkonformen »Flow« überführt, der irritierend gefällig wirkt.
»Hannah Arendt - Denken ist gefährlich«, Regie: Chana Gazit und Jeff Bieber. Das Erste, Mo 1.12., 23.35 - 1.05 Uhr