Israel

Wie weiter im Gazastreifen?

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Foto: picture alliance / AA/photothek.de

Am Dienstagabend haben in Tel Aviv erneut Hunderte Menschen für die Freilassung der in den Gazastreifen verschleppten Geiseln und ein sofortiges Ende des Krieges demonstriert. Der Protestzug startete am Dizengoff-Platz und endete vor der Kirya, dem Hauptquartier der israelischen Armee.

Kurz zuvor war in Jerusalem eine dreistündige Unterredung zu Ende gegangen, in der Eyal Zamir, Oberbefehlshaber der IDF, die Optionen für die Fortsetzung der Militäraktion im Gazastreifen vorgestellt hatte. An der Sitzung nahmen neben Premierminister Benjamin Netanjahu auch Verteidigungsminister Israel Katz sowie der Minister für strategische Angelegenheiten, Ron Dermer, teil. In einer kurzen Mitteilung des Büros des Premierministers hieß es danach: »Die IDF ist bereit, alle Entscheidungen des Sicherheitskabinetts umzusetzen.«

Das Treffen fand vor dem Hintergrund zahlreicher Berichte über zunehmende Spannungen zwischen dem Premierminister und dem Stabschef statt. Auch am Dienstag soll es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Netanjahu und Zamir gekommen sein. Netanjahu dringt trotz Einwänden der Militärführung auf eine vollständige Einnahme des Gazastreifens, einschließlich Operationen in Gebieten, in denen mutmaßlich Geiseln festgehalten werden. In der Armeeführung bestehen große Bedenken, die Kämpfe auszuweiten und den Gazastreifen vollständig einzunehmen.

In einer für diesen Donnerstag geplanten Sitzung des Sicherheitskabinetts soll das weitere Vorgehen im seit rund 22 Monaten andauernden Krieg entschieden werden. Israel kontrolliert derzeit rund 75 Prozent der Fläche des Küstenstreifens. Die Militäroperation könnte nun auch auf Gaza-Stadt und die zentralen Flüchtlingslager ausgeweitet werden.

Vor Rekruten der Panzertruppe und des Pionierkorps machte Netanjahu am Dienstag auf einer Militärbasis in Tel Hashomer deutlich: »Es ist immer noch notwendig, die Niederlage des Feindes in Gaza zu vollenden, unsere Geiseln zu befreien und sicherzustellen, dass Gaza nie wieder eine Bedrohung für Israel darstellt. Wir geben keine dieser Missionen auf.«

Eyal Zamir sieht hingegen Gefahren für die noch festgehaltenen Geiseln. Derzeit befinden sich 50 Geiseln in der Gewalt der Hamas und anderer Terrororganisationen, 20 von ihnen sollen noch am Leben sein. Der Plan einer Besatzung könne eine »Falle« für die israelischen Streitkräfte darstellen, soll der Generalstabschef Medienberichten zufolge bei der Sitzung am Dienstag gewarnt haben.

Die Haltung des Armeechefs hatte scharfe Kritik in der rechten Koalition ausgelöst. Hochrangige Beamte sollen ihn aufgefordert haben, zurückzutreten, wenn ihm seine Befehle nicht gefielen. Netanjahus Sohn Yair kritisierte Zamir in einer Reihe von Beiträgen auf X. Er unterstellte dem IDF-Chef sogar, er versuche, einen Militärputsch gegen seinen Vater anzuzetteln.

Der Vorsitzende der Partei »Nationale Einheit«, Benny Gantz, wies die Angriffe auf den Generalstabschef zurück und betonte, dass die militärische Führung keine »Marionette« der Politik sein dürfe. »Das Problem liegt auf der politischen Ebene, nicht auf der militärischen.«

Der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, hatte am Sonntag bei seinem umstrittenen Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg auf die jüngsten Videos ausgehungerter israelischer Geiseln verwiesen. Damit versuche die islamistische Hamas, Druck auf Israel auszuüben. Als Reaktion müsse Israel »noch heute den ganzen Gazastreifen besetzen, Souveränität im ganzen Gazastreifen erklären«, so Ben-Gvir. Gleichzeitig müsse man die palästinensische Bevölkerung zu »freiwilliger Auswanderung ermutigen«.

Oppositionschef Yair Lapid warnt derweil vor gefährlichen Konsequenzen. Er kritisierte, dass Netanjahus Pläne die verbleibenden Geiseln in Gefahr brächten und den israelischen Bürgern die langfristigen Kosten für die Herrschaft über Millionen von Palästinensern aufbürden würden. Er sagte, dass ein solcher Schritt Israel international isolieren und jede Hoffnung auf regionale Unterstützung für den Wiederaufbau nach dem Krieg zunichtemachen würde.

Im Fernsehkanal »Kan 11« verwies Eran Shamir-Borer, Direktor des Zentrums für nationale Sicherheit und Demokratie und früherer Leiter der Abteilung für internationales Recht der IDF, am Dienstag auf die enormen Kosten einer Besatzung hin. »Stellen wir uns den Gazastreifen mit zwei Millionen Menschen und völlig zerstörter Infrastruktur vor: Und dann muss man für die Bevölkerung sorgen.« Israel müsse für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, für Unterkunft, Verpflegung, medizinische Versorgung und langfristig für Bildung, Soziales und vieles mehr aufkommen. »Sind wir wirklich dazu bereit?«, fragte Shamir-Borer.

Wie die »Times of Israel« berichtet, lehnt eine Mehrheit der Israelis die dauerhafte Annexion von Teilen des Gazastreifens ab. Dies gehe aus einer Umfrage hervor, die für die Zeitung durchgeführt wurde. Von den Befragten lehnten 53,2 Prozent eine Besatzung ab, während 38,9 Prozent dafür waren und 7,9 Prozent keine Meinung hatten. Hingegen ergab eine Befragung der rechtsgerichteten Tageszeitung »Israel Hayom«, dass 52 Prozent der Israelis die Wiederaufnahme der Siedlungen im Gazastreifen unterstützen.

Mehrere frühere israelische Sicherheitschefs, darunter Direktoren des Mossad, des Schin Bet und des Aman, haben sich in einem Videoaufruf energisch für ein sofortiges Ende des Gaza-Kriegs ausgesprochen. Ähnlich kritisch ist die Position des Forums der Geiselfamilien: »Seit 22 Monaten wird der Öffentlichkeit die Illusion verkauft, dass militärischer Druck und intensive Kämpfe die Geiseln zurückbringen werden.«

Unter den Teilnehmern der Demonstration am Dienstagabend in Tel Aviv war auch Vicky Cohen. Ihr Sohn Nimrod wurde als Soldat einer Panzereinheit am 7. Oktober 2023 verschleppt. Vicky Cohen sagte am Rande der Demonstration dem TV-Sender »Kan 11«, dass die Pläne zur Eroberung des Gazastreifens für die Geiseln das Todesurteil bedeuten würden. »Das dürfen wir nicht zulassen, und deshalb sind wir hier, um weiterzukämpfen.« Cohen forderte von Netanjahu, auf das Volk zu hören: »Beenden Sie den Krieg und bringen Sie Nimrod und alle anderen endlich nach Hause.« ddk

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