Israel

Wenn das Meer trägt

Roni Aharon hat ihre Grenze erreicht. Es ist Dienstagmorgen, im schwarzen Neoprenanzug, ein Surfbrett unter dem Arm, die Leine um den Knöchel gebunden, steht sie am Strand von Herzliya und schaut in Richtung Horizont. Vor ihr ist eine Linie, die sie nicht zu überschreiten wagt. Die Schultern hochgezogen, das Gesicht ernst, ist die Anspannung der zierlichen Frau offensichtlich. Gischt umspielt ihre nackten Füße. Dann tritt jemand von der Seite an sie heran, flüstert ihr etwas ins Ohr. Plötzlich atmet sie tief ein, macht einen Schritt vorwärts und läuft in Richtung der Wellen. Hier, auf der Erde, sind die schmerzhaften Erinnerungen allgegenwärtig. Dort, im Wasser, ist das Vergessen. Wenn auch nur für eine Stunde.

Die 23-Jährige hat das Massaker der Hamas auf dem Musikfestival Nova in der Nähe des Kibbuz Re’im überlebt. Am Abend des 6. Oktober tanzte sie mit Tausenden in einem Freudentaumel unter dem Sternenhimmel der westlichen Negev­wüste – am nächsten Morgen waren viele ihrer Freunde tot. Massakriert von Horden von Hamas-Terroristen aus Gaza, die über die jungen Leute herfielen.

Die Israelis sind ein Küstenvolk. Selbst tief im Hinterland sind sie nirgends weiter als zwei Stunden vom Meer entfernt. Am Strand zu spielen und im Wasser zu planschen, gehört zu den typischen Kindheitserinnerungen. Doch in den vergangenen Jahren ist eine Freizeitbeschäftigung besonders populär geworden: das Surfen. Wer auf den Wellen reitet, trainiert nicht nur den Körper, sondern auch den Geist, sagen die, die es regelmäßig tun.

An Land denkt man sich nichts dabei, aus einem Meter Höhe zu springen – doch weit draußen im Ozean zu sein, kann sehr bedrohlich wirken. Eine einzige, nur einen Meter hohe Welle im Meer hat Kräfte, sie lässt sich nur schwer einschätzen, auch wenn sie nichts weiter ist als Wasser.

Hagal Scheli wurde 2012 von den zwei Surfern und Pädagogen ins Leben gerufen

Die Gründer von »Hagal Scheli« (hebräisch für »Meine Welle«) erkannten in dieser Herausforderung, dass das Surfen für Menschen, die mit Ängsten und Traumata kämpfen, hilfreich sein kann. Hagal Scheli wurde 2012 von den beiden Surfern und Pädagogen Omer Tolchinski und Yaron Waxman ins Leben gerufen, ursprünglich mit dem Ziel, gefährdete Jugendliche zu erreichen. Daraus entwickelte sich das Format »Tools from the waves«, ein innovatives Traumathera­pieprogramm, das seit mehr als vier Jahren läuft und von einem Team aus Psychologen, Sozialarbeitern und Surflehrern getragen wird.

Surfen wird hier als Methode eingesetzt, die körperliche Aktivität mit strukturierter emotionaler Verarbeitung verbindet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen, mit ihren Erlebnissen umzugehen, auf eine Weise, die nachweislich das Risiko Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) senkt. Mittlerweile gibt es Programme in elf Städten Israels mit mehr als 380 Teammitgliedern.

Seit den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Krieg in Gaza richtet sich das Angebot auch an neue Gruppen: ehemalige Geiseln, Überlebende des Nova-Musikfestivals, evakuierte Bewohner aus den geschundenen südlichen Gemeinden und aus dem Norden Israels, an Sicherheitskräfte sowie Reservisten.

Für viele Betroffene ist die Surfgruppe der erste Ort, an dem sie sich wieder »normal« fühlen

Für viele Betroffene ist die Surfgruppe der erste Ort, an dem sie sich wieder »normal« fühlen, umgeben von Menschen, die Ähnliches durchlitten haben. Keren Hadad, auch sie eine Nova-Überlebende, ist nicht überzeugt, dass Surfen »ihre« Freizeitbeschäftigung ist. »Doch es ist mehr als nur ein Sport für mich. Ich lerne dabei sehr viel, zum Beispiel, geduldig und fokussiert zu sein. Selbst wenn ich denke, ich habe an diesem Tag keine Energie, komme ich trotzdem. Es zieht mich einfach rein.«

Jeder langjährige Surfer bestätigt, dass es beim Surfen nicht hauptsächlich um das Reiten auf der Welle geht, sondern um das Ringen mit ihr. Man muss hinauspaddeln, Meter um Meter, wird ständig von den hereinbrechenden Wassermassen zurückgeworfen und erreicht schließlich den Punkt weit draußen, an dem es möglich ist, auf den Wellen zu reiten. Und dann heißt es: Warten und warten, manchmal stundenlang, um eine gute Welle zu finden – und sie auch zu erwischen.

Genau diese Auseinandersetzung ist es, die Ido Betzer sucht. Als Bademeister und Wasserballspieler kennt er sich mit dem Element aus, gesurft ist er aber zuvor kaum. »Doch jetzt finde ich es großartig«, so der 28-Jährige, der mit PTBS diagnostiziert ist und regelmäßig unter Panikattacken leidet. Auch er war am »Schwarzen Schabbat« auf dem Festival. Acht Monate lang konnte er danach nicht mehr arbeiten gehen. »Im Wasser denkt man an nichts anderes, nur an die nächste Welle. Diese Herausforderung gibt mir einen Fokus. Den brauche ich, denn ich will im Leben bestehen und erfolgreich sein.«

Das Surfen, sagen die Teilnehmer übereinstimmend, sei ein »Time-out von den eigenen Gedanken, eine Pause vom Trauma«. Für einige, die hierherkommen, bedeutet der Schritt ins Wasser auch eine symbolische Reinigung vom Bösen. »Manchmal fühlt es sich so an, als würden die schweren Zeiten fortgewaschen«, meint Betzer. »Und wenn man aus dem Wasser kommt, erschöpft, wird man vom Team aufgefangen und beschützt.«

Shay Levy, der Manager des Center in Herzliya, bestätigt das. Er ist seit elf Jahren bei Hagal Scheli und arbeitet regelmäßig mit Menschen, die an PTBS leiden. »Zuerst gingen wir mit ein paar Freunden zu den Überlebenden aus Kfar Aza, die im Kibbuz Schfaim untergebracht sind, und luden sie ein, mit uns zu surfen. Drei Monate lang waren wir jeden Tag da, später einmal die Woche. Nach einem Jahr war uns klar, dass wir es organisiert anbieten müssen, weil es eine echte Hilfe für die Menschen ist.«

»Denn«, ist er überzeugt, »es ist klar, dass man den Ozean nicht kontrollieren kann. Das merkst du sofort. Doch du kannst lernen zu surfen. Und diese Art, die Kontrolle zu übernehmen, kann auf alle Aspekte des Lebens übertragen werden.«

Psychologinnen und Psychologen sind immer präsent, wenn sich die Surfer treffen

Psychologinnen und Psychologen, die die Gruppen betreuen, sind immer präsent, wenn die Teilnehmer im Wasser sind. Normalerweise sitzen sie am Strand. Doch Ben Bilaus geht mit. Der Psychologe ist selbst Surfer. Vor zehn Jahren begann er und beschreibt den Ritt auf einer Welle als »ultimativen Glücksmoment«. Irgendwann habe er die Eingebung gehabt, Therapie und Surfen zu verbinden, und fand Hagal Scheli.

Seit Mai 2024 ist er dabei und sieht, dass sich das therapeutische Surfen in der Gruppe besonders positiv auf die Traumapatienten auswirkt. »Dies sind Leute, die geliebte Menschen verloren haben. Das kann man nicht reparieren. Aber wir können ihnen die Werkzeuge geben, damit umzugehen, und wir können für sie da sein«, sagt Bilaus. Zudem glaube er fest an die Macht der besonderen Stille, die man nur im Meer findet.

Dieses Gefühl ist es auch, das Roni Aharon immer wieder herzieht. »Es gibt etwas zwischen Wellen und Horizont, das ich nicht erklären kann. Wenn ich im Wasser bin, spüre ich Ruhe in meinem ganzen Körper, wie sonst nie.«

Die junge Israelin, die aus dem Süden des Landes stammt, lebte jahrelang in Tel Aviv. Doch nach dem Massaker zog sie zurück zu ihren Eltern, sie konnte die Hektik und den Lärm der Großstadt nicht mehr ertragen. Oft verlasse sie tagelang die Wohnung nicht, erzählt sie, manchmal komme sie nicht aus dem Bett. Einmal in der Woche aber steht sie auf, zieht sich an und fährt in Richtung Meer. Dahin, wo sie jedes Mal ihre eigenen Grenzen überschreitet.

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