Der Entscheid des Kantons Zürich, auf die Aufnahme verletzter Kinder aus dem Gazastreifen zu verzichten, wurde in den vergangenen Tagen öffentlich stark diskutiert. Die SP Zürich kritisiert den Entscheid heftig und wirft der Zürcher Kantonsregierung vor, Sicherheitsbedenken nur vorzuschieben. Der Bund könne garantieren, dass von den Kindern und ihren Begleitpersonen keine Gefahr ausgehe, heißt es von Seiten der SP. Zur Unterstützung ihrer Forderung hat die Partei eine Petition lanciert, die bereits über 42.000 Unterschriften zählt.
In einer emotional aufgeladenen Debatte ist es jedoch wichtig, die Gründe, die zu diesem Entschluss geführt haben, sachlich zu betrachten. Gerade aus einer kritischen, aber realistischen Perspektive lässt sich dieser Entscheid durchaus als verantwortungsvoll beurteilen.
Die Schweiz – und insbesondere der Kanton Zürich als wirtschaftliches Zentrum – trägt eine besondere Verantwortung für die innere Sicherheit. Bei der Aufnahme von Personen aus einem Kriegsgebiet, in dem terroristische Gruppierungen wie die Hamas aktiv sind, bestehen objektiv erhöhte Risiken. Eine sorgfältige Sicherheitsüberprüfung ist in einem Gebiet wie Gaza daher faktisch unmöglich: Verwaltungsstrukturen sind zerstört, Auskünfte unzuverlässig, Identitäten schwer zu verifizieren.
Humanitäre Hilfe sollte sich an Wirksamkeit und Nachhaltigkeit orientieren, nicht an moralischer Selbstvergewisserung.
Der Zürcher Regierungsrat hat folgerichtig erkannt, dass er keine Verantwortung für Risiken übernehmen kann, die sich nicht seriös einschätzen lassen. Diese Haltung ist kein Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern von staatspolitischer Sorgfaltspflicht. Sicherheit ist ein öffentliches Gut, das nicht leichtfertig gefährdet werden darf – auch nicht aus humanitären Motiven.
Die Aufnahme von rund 20 verletzten Kindern bei einer geschätzten Zahl von mehreren Tausend schwer Betroffenen im Gazastreifen hat außerdem vor allem symbolischen Charakter. Zürich hat den Mut bewiesen, diesen Symbolismus zu hinterfragen.
Humanitäre Hilfe - die Schweiz stellte dafür im vergangenen Jahr den nicht alles andere als kleinen Betrag von mehr als viel Milliarden Franken zur Verfügung - sollte sich an Wirksamkeit und Nachhaltigkeit orientieren, nicht an moralischer Selbstvergewisserung. Mit denselben Ressourcen, die für eine kleine Gruppe in der Schweiz eingesetzt würden, könnte vor Ort in Gaza oder in Nachbarländern wesentlich mehr erreicht werden – etwa durch medizinische Evakuationen, mobile Kliniken oder Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen. Der Entscheid, auf ineffiziente Symbolpolitik zu verzichten, zeugt daher von einer rationalen Prioritätensetzung zugunsten konkreter, breiter wirksamer Hilfe.
Die Schweizer Kantone stehen zudem unter erheblichem Druck: Spitäler arbeiten an der Kapazitätsgrenze, Fachpersonal fehlt, und die Sozialkosten steigen kontinuierlich. Unter diesen Bedingungen zusätzliche, hochkomplexe Fälle aufzunehmen, ist zwar menschlich verständlich, aber organisatorisch problematisch.
Zürich hat erkannt, dass Humanität nicht bedeutet, alles und jeden aufnehmen zu müssen, sondern dass sie auch in der Fähigkeit liegt, Verantwortung zu begrenzen, um bestehende Strukturen zu schützen. Die kantonale Regierung trägt Verantwortung für alle hier lebenden Menschen – und damit auch für eine verlässliche Gesundheits- und Sozialversorgung.
Paradoxerweise kann eine solche Entscheidung gerade deshalb humanitär sein, weil sie ehrlich ist.
Der Entscheid ist letztlich Ausdruck von föderalem Charakter. Die Schweiz ist kein Zentralstaat, sondern ein Verbund autonomer Kantone mit eigenen Verantwortlichkeiten. Der Bund kann humanitäre Programme initiieren, aber die konkrete Umsetzung – Unterbringung, Betreuung, medizinische Behandlung – liegt bei den Kantonen. Wenn Zürich zum Schluss kommt, dass die Voraussetzungen für eine sichere und sinnvolle Durchführung nicht gegeben sind, dann handelt der Kanton nicht unsolidarisch, sondern im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeit und finanziellen Verantwortung.
Paradoxerweise kann eine solche Entscheidung gerade deshalb humanitär sein, weil sie ehrlich ist. Sie verzichtet auf symbolische Gesten, die mehr politisches Wohlgefühl als tatsächliche Wirkung erzeugen. Zürich kommuniziert damit klar, dass Hilfe dort geleistet werden soll, wo sie am meisten nützt – nicht dort, wo sie am meisten Aufmerksamkeit erzeugt.
Der Zürcher Entscheid ist kein Ausdruck von Hartherzigkeit, sondern zeugt von politischer Überlegung. Er zeigt, dass Verantwortungsbewusstsein nicht darin besteht, reflexhaft zu helfen, sondern die Folgen des eigenen Handelns nüchtern abzuwägen. Sicherheit, Effizienz, Zuständigkeitsklarheit und Systemverantwortung sind Grundlagen dafür, dass humanitäres Handeln langfristig möglich bleibt. Wer diese Grundlagen bewahrt, handelt im besten Sinne verantwortungsvoll – auch dann, wenn der Entscheid unpopulär.
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