Jerusalem

Trauer und Angst

Gebete bei der Beisetzung von Rabbiner Mosche Twersky sel. A. Foto: Flash 90

Für die Einheimischen ist er nur der Schuk – der Markt. Seit Jahrzehnten gehen auf dem Mahane Jehuda im Herzen von Jerusalem Hausfrauen und Studenten, Restaurantchefs und Touristen gleichermaßen einkaufen. Am Tag nach dem blutigen Terroranschlag auf die Synagoge Kehilat Bnei Tora, bei dem fünf Menschen ermordet wurden, sind die Marktgassen fast menschenleer.

Die palästinensischen Terroristen kamen mit Äxten, Messern und Pistolen und hinterließen Bilder des Grauens. Vier betende Rabbiner starben bei der Attacke, ein Polizist erlag in der Nacht zum Mittwoch seinen Verletzungen. Mindestens sieben weitere Menschen wurden verletzt, drei davon sollen sich noch in kritischem Zustand befinden. Bei den Getöteten handelt es sich um die Rabbiner Avraham Schmuel Goldberg, Ariyeh Kupinski, Kalman Zeev Levine, Mosche Twersky und den Grenzpolizisten Zidan Nahad Seif.

Gegen 7.30 Uhr drangen die beiden Palästinenser in das jüdische Gotteshaus im Stadtteil Har Nof ein und gingen wahllos mit ihren Waffen auf die Betenden los. Die Angreifer wurden bei einem Schusswechsel mit Sicherheitskräften erschossen.

Bürgermeister Nir Barkat zeigte sich geschockt: »Jerusalem senkt an diesem schweren Morgen die Köpfe voller Schmerz. Friedliche Bewohner, die in einer Synagoge im Herzen der Stadt beteten, wurden kaltblütig und grausam hingerichtet – während sie ihre Gebetsschals trugen. Doch wir werden nicht aufgeben. Wir stehen aufrecht und verteidigen unsere Stadt vor jenen, die den Frieden hier zerstören wollen.«

Geschäfte Nur wenige Autominuten vom Tatort entfernt liegt der Mahane-Jehuda-Markt. In den vergangenen Jahren hat er sich zu einem Treffpunkt der Ausgehfreudigen und Gourmets mit immer schickeren Restaurants, Bars und Cafés entwickelt. Seit dem Beginn der Ausschreitungen und der Anschlagwelle aber meiden viele das sonst so beliebte Gewimmel. Miri Biton aus Ramat Hascharon bekommt diese Woche Besuch aus dem Ausland. »Wir hatten drei Tage Jerusalem fest eingeplant. Doch jetzt werde ich nicht fahren. Meine Freunde waren noch nie in Israel, und ich kann sie nicht in eine Gefahrensituation schicken, die nicht einzuschätzen ist.«

Die gedrückte Stimmung spiegelt sich auch in Zahlen wider: Viele Händler auf dem Schuk sprechen von 30 bis 50 Prozent Einbußen. Nachdem im Sommer die Touristen aus dem Ausland wegen der Militäroperation »Protective Edge« fast komplett weggeblieben waren, müssen die Geschäftsleute nun erneut mit großen Verlusten umgehen. Die Jerusalemer würden in jeder neuen Terrorphase geschlossene Gebäude wie Einkaufszentren, in denen Sicherheitspersonal jeden Besucher kontrolliert, klar bevorzugen, weiß Schmuel Ben Mosche, Geschäftsführer des luxuriösen Open-Air-Einkaufstempels Mamilla am Eingang des Jaffatores zur Altstadt.

»Dennoch ist die Lage nicht so schlimm, wie in den Medien dargestellt«, sagt er mit Vehemenz. »Wir leben ja in Jerusalem. Man kann ohnehin nichts tun. So ist unser Land eben. Wir müssen einfach geduldig sein und abwarten.«

Nicht alle sehen es so gelassen. Ben Arusch, Chef des erst sieben Monate alten Kinokomplexes Cinema City mit dem Nobelrestaurant LEO berichtet von Verlusten bis 80 Prozent. »Wenn es so weitergeht, kann das schnell zu einer wirtschaftlichen Katastrophe in der Stadt führen.«

Koexistenz Und die Auswirkungen der brutalen Gewalt machen nicht an den Stadtgrenzen Jerusalems halt. Die gedrückte Stimmung zieht sich durch das ganze Land. Auch im Zentrum sind die psychologischen Folgen des Terrors zu spüren. In einer Oberschule im Norden Tel Avivs wird am Morgen des Anschlags diskutiert, ob man einen geplanten Koexistenz-Besuch in der arabischen Stadt Taiybe absagen soll oder nicht. Die Lehrerin fragt die Schüler der neunten Klasse, wie ihnen zumute ist. Ein Mädchen sagt, sie habe Angst, man könnte sie »bei den Arabern mit Pistolen empfangen«. Andere erwidern, das sei Rassismus, und wollen auf jeden Fall fahren. Doch ein Großteil der Kinder sagt, sie hätten Angst und wollten nicht mitkommen.

»Ich respektiere eure Bedenken«, resümiert die Lehrerin, »doch gerade in schwierigen Zeiten muss man für ein friedliches und positives Zusammenleben zwischen Juden und Arabern arbeiten.« Gemeinsam einigt man sich darauf, statt hinzufahren, eine Klasse aus Taiybe nach Tel Aviv einzuladen.

Es ist keine leichte Zeit für die Vertreter der Koexistenz. Kommentator Chemi Shalev schrieb am Morgen nach dem Attentat in der Tageszeitung Haaretz, dass das Massaker in Jerusalem ihn hoffnungslos macht. »Israelis und Palästinenser bestehen darauf, durch ein Fass ohne Boden zur Hölle zu fahren – bis das Feuer uns alle aufgefressen hat.«

Organisation Obwohl die Täter eigenständig und ohne jegliche Organisation gehandelt haben sollen, veröffentlichte die Hamas ein Statement, der Anschlag sei eine Antwort auf den Tod des Busfahrers Yussuf Hassan al-Amouni, der am Vortag erhängt in einem Busdepot gefunden worden war. Mittlerweile ist jedoch bestätigt, dass es sich um einen Selbstmord ohne Fremdeinwirkung gehandelt hat. Das ergab die Obduktion – unter Teilnahme eines von der Familie bestimmten palästinensischen Pathologen.

Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärte, man werde mit harter Hand gegen diese brutalen Morde an Juden, die nur beten wollten, vorgehen. Es wurde beschlossen, die Häuser der Attentäter zu zerstören und die Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt und im ganzen Land zu verstärken. Der Premier rief alle Israelis auf, »maximale Aufmerksamkeit« walten zu lassen. Er beschuldigte die Hamas und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas der Aufwiegelung zum Terrorismus. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Yoram Cohen, schwächte die Vorwürfe gegen Abbas jedoch ab: »Abbas ist nicht an Terrorismus interessiert und fordert seine Leute nicht dazu auf. Auch nicht insgeheim.«

Susan Cohen wohnt seit fast zehn Jahren in Jerusalem und will trotz der jüngsten Ereignisse nirgendwo anders hin. Und doch machen der gebürtigen New Yorkerin die zunehmenden Terroranschläge zu schaffen. »Es ist schon so, dass man sich fürchtet, aus dem Haus zu gehen, und permanent überlegt, ob es sich lohnt, in einem Café zu sitzen oder nur kurz vor einem Laden stehen zu bleiben. Die Unbeschwertheit ist weg. Nicht nur bei mir, ich spüre das überall in der Stadt.« Über einen Umzug denkt die 40-Jährige trotzdem nicht nach. »Es stimmt, dass es hier viel zu viele Tränen gibt. Doch da sind auch die ganzen Freudentaumel. Unterm Strich bleibt, dass Jerusalem eine wahnsinnige Energie hat. Es bleibt einfach eine wunderschöne und sehr schwierige Stadt.«

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