Sie sind rot, sie sind fett, und sie verheißen nichts Gutes. Langsam gelangen immer mehr Zahlen an die Öffentlichkeit. Aber es sind nicht die zu Neuinfektionen mit Covid-19. Stattdessen werden die Auswirkungen auf die Wirtschaft in Israel deutlich. Von Gesundung des Marktes kann keine Rede sein. Stattdessen gibt es große Probleme überall.
Die Wirtschaft schrumpfte im ersten Quartal des Jahres durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus um 7,1 Prozent – nach Angaben des zentralen Statistikbüros der höchste Wert innerhalb von zwei Jahrzehnten. Sogar für den Beginn des kommenden Jahres werden noch überdurchschnittlich viele Arbeitslose und Geschäftsschließungen erwartet. Vor allem junge und alte Bürger sowie Geringverdiener leiden unter den Folgen.
SOZIALLEISTUNGEN Sämtliche sozialen Institutionen werden derzeit überrannt. Der neue Sozialminister Itzik Shmuli (Awoda) drängt die Regierung daher, statt Sozialleistungen Anreize für Unternehmen zu schaffen, um wieder Leute anzustellen.
Mitte April, während des Lockdowns, war die Arbeitslosigkeit mit 1,2 Millionen auf 27,5 Prozent gestiegen, ein historischer Höchststand. Bevor das Virus in Israel angekommen war, hatte die Quote mit weniger als vier Prozent zu den niedrigsten in der ganzen Welt gehört.
Durch die Wiederöffnung der Wirtschaft in den vergangenen Wochen kehrten zwar 300.000 Menschen wieder an ihre Arbeitsplätze zurück, doch weitere 100.000 verloren ihren Job. Die Zahl der Beschäftigungslosen liegt Anfang Juni noch immer bei 950.000, die Quote bei über 25 Prozent. Für den kommenden Januar wird sie von der Agentur für Arbeit auf mindestens elf Prozent geschätzt.
Die jüngsten und die ältesten Angestellten wurden als Erste entlassen.
Das Finanzministerium zeigte in einer neuen Studie, dass 54 Prozent der Arbeitslosen aus kleinen oder mittelständischen Betrieben stammen. Die 18- bis 24-Jährigen und die über 65-Jährigen stellen dabei die größte Gruppe dar. »Der Verlust der ›schwächsten‹ Angestellten macht es für Unternehmen möglich, die wirtschaftlichen Schäden zu reduzieren. Doch gleichzeitig wird es viel schwieriger, diese Menschen wieder in die Beschäftigung zurückzuholen«, heißt es aus dem Ministerium.
Um vor allem jungen Menschen zu Jobs zu verhelfen, erklärten am Wochenbeginn Premier Benjamin Netanjahu und Finanzminister Israel Katz, dass sie es für diejenigen, deren Arbeitslosengeld im Juni ausläuft, um weitere 35 Tage verlängern werden. »Ziel ist, dass wir die Wirtschaft ankurbeln, die Räder wieder zum Laufen bringen, und dass wir das Leben für die Israelis leichter machen«, so Netanjahu.
KREDITE Außerdem verkündeten sie, dass sie die Einfuhrumsatzsteuer für viele Waren dauerhaft streichen wollen, damit die Ladenpreise der Produkte sinken. Dazu gehören elektronische Geräte wie Mobiltelefone, Kleidung und Schuhe, Babywaren, Brillen sowie Spielzeug und Haushaltsgeräte. Die Steuer beträgt durchschnittlich zwölf bis 15 Prozent. Das Vorhaben wird dem Staat geschätzte 370 Millionen Euro jährlich weniger einbringen.
Auch viele der innovativen Hightech-Unternehmen, die Israel zu seinem Ruf als »Start-up-Nation« verholfen haben, sind hart getroffen. Der Sektor stellt etwa zehn Prozent aller Jobs im Land. Noch im Februar, als die Wirtschaft boomte, schwammen auch die Start-ups auf der Welle des Erfolgs im Land.
Eine Umfrage der staatlichen israelischen Innovationsbehörde (IIA) von Mitte Mai unter 414 Unternehmen zeigt, dass diese auch nach der Rückkehr zur relativen Normalität die schwerwiegenden Folgen der wirtschaftlichen Lähmung spüren: 40 Prozent der Hightech-Firmen gaben an, dass Investoren die Gelder eingefroren haben. Die Hälfte berichtete, dass Banken ihnen jegliche Kredite versagen. Firmen, die Verkäufe haben, verzeichnen Einbußen von mehr als 25 Prozent.
UNTERNEHMEN Der Vorsitzende der IIA, Aharon Aharon, weiß, dass sich viele Unternehmen großen Herausforderungen gegenübersehen. »65 Prozent der Firmen mit einem bis zehn Angestellten haben angegeben, dass sie ohne weitere Gelder nicht länger als sechs Monate durchhalten. Das zeigt umso mehr die Notwendigkeit der Unterstützung seitens der Regierung.« Die bereits beschlossenen 1,2 Milliarden Schekel (300 Millionen Euro) für den Sektor seien nicht ausreichend.
In verschiedenen Städten sind Zentren für die Unterstützung von Klein- und Mittelbetrieben eingerichtet worden. Auch in Jerusalem.
Präsident Reuven Rivlin und Bürgermeister Moshe Lion besuchten das Zentrum in der Tachana-First Station, eine Gemeinschaftsaktion des Ministeriums für Jerusalem-Angelegenheiten, der Stadtverwaltung und der Jerusalemer Entwicklungsbehörde.
GRENZEN Besonders ernst sieht die Lage für die Tourismusbranche aus. Bis heute sind die Grenzen für Ausländer geschlossen, die Hotels und Hostels stehen in den meisten Gegenden so gut wie leer, Fremdenführer sind in überdurchschnittlichem Maße arbeitslos.
In verschiedenen Städten sind Zentren für die Unterstützung von Klein- und Mittelbetrieben eingerichtet worden.
Der Reiseführer Gadi Dahan erzählt von seinen persönlichen Schwierigkeiten und denen seiner Branchenkollegen: »Ich schlafe nachts nicht mehr. Unser gesamter Berufszweig ist in Gefahr. Ich habe mir schon lange Gedanken gemacht, dass die Touristen, die wir herumführen, immer älter werden und vielleicht bald gar nicht mehr kommen. Und dann endete einfach alles von einem Tag auf den nächsten. Und jetzt haben wir nichts mehr zu essen.«
»Als ehemaliger Buchhalter verstehe ich, was Geschäftsleute gerade durchmachen«, so der Jerusalemer Bürgermeister. Er kündigte an, Stühle und Tische für Lokale auf den Bürgersteigen zu erlauben, ohne Gebühren zu berechnen. Außerdem wolle er kulturelle Veranstaltungen anregen.
Noam Rizi, Eigentümer des Restaurants »Adom«, reichen die Versprechungen nicht: »Die Stadtverwaltung hat Pläne in Millionen-Dollar-Höhe. Aber unsere Lage ist extrem.«
DARLEHEN Er habe bislang lediglich 1000 Schekel erhalten (umgerechnet weniger als 250 Euro), keine Zuschüsse, keine Darlehen. »Unsere Lieferanten wollen ihr Geld, sie haben ja schon zwei Monate gewartet. Aber wir haben nichts, womit wir die Rechnungen bezahlen können, weil wir kaum Einkünfte haben. Es gibt Kollegen, die täglich Tränen in den Augen haben.« Rizi gibt an, dass er zudem Mietschulden in Höhe von 13.000 Euro habe.
»Der Corona-Ausbruch ist schon lange nicht mehr nur Gesundheitskrise, mit wirtschaftlichen und sozialen Aspekten. Hinter jedem kleinen Geschäft stehen ein großer Traum und ein ganzes Leben«, so Präsident Rivlin. »Es gibt viele Israelis, deren Lebensunterhalt in Gefahr ist.«
Jetzt, da Israel endlich wieder eine Regierung habe, müsse das Land die wirtschaftliche Regeneration zur Priorität machen und den kleinen Geschäften zu Hilfe kommen. »Das ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern der Schlüssel für die Gesundung der Wirtschaft als Ganzes.«