7. Oktober

Nach dem Überleben

Seit zwei Jahren begleiten die Bilder der entführten und ermordeten Menschen die Israelis tagtäglich. Foto: copyright (c) Flash90 2024

In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 war ich ein glücklicher Mensch. Gemeinsam mit meinen Freunden stand ich auf dem Gelände unseres Nova-Festivals. Die Sonne ging langsam auf, und ich war stolz auf das, was wir geschaffen hatten. Mit dem Nova-Festival ging unser Traum in Erfüllung: ein Ort voller Musik, Gemeinschaft, Freiheit und Liebe.
Für einen Moment schien die Welt perfekt, Tausende Menschen aus aller Welt tanzten gemeinsam und feierten das Leben. Uns umgaben nur Musik und dieses ganz spezielle Leuchten in den Augen. Dann blieb diese Welt stehen und würde nie mehr dieselbe sein.

Ich wurde 1983 in Offenbach geboren und bin in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Mit elf Jahren zog ich mit meiner Familie nach Israel, später lebte ich zwischen Berlin und Tel Aviv. Meine Frau und ich hatten geplant, nach der Geburt unserer Tochter ganz nach Berlin zu ziehen. Doch dann kam der 7. Oktober. Um 6.29 Uhr stand ich auf der Hauptbühne neben dem DJ. Die Musik war laut, die Stimmung perfekt, alle warteten auf den Sonnenaufgang.

Dann kamen die Trucks. Die Schüsse. Die Schreie. Und plötzlich begriffen wir: Terror

Erst war ein Knallen zu hören, das nicht zur Musik gehörte. Dann: Raketen am Himmel. In Israel ist das nichts Ungewöhnliches. Aber diesmal hörte es nicht auf. Dann kamen die Trucks. Die Schüsse. Die Schreie. Und plötzlich begriffen wir: Terror. Jetzt ging es nur noch darum, andere zu retten und zu überleben. Ich wurde angeschossen. Eine Kugel ging erst durch mein rechtes und dann in mein linkes Bein. Ich griff mein blutverschmiertes Handy, rief meine Frau an und sagte ihr, es sei alles in Ordnung, damit sie sich keine Sorgen macht. Vier Wochen später wurde unsere Tochter geboren. Wir nannten sie Eliana – Gott hat uns gehört.

Wir waren zu siebt im Auto, das mir das Leben rettete. Leider nicht allen. Einer meiner Freunde starb in meinen Armen, eine Kugel der Terroristen hatte ihn im Hals und im Rücken getroffen. Er lebte noch zwei Stunden. Zum Glück konnte er seiner Mutter sagen, dass er sie liebt. Fünf Mal. Dann war er tot. Nach einigen Stunden kamen Zivilisten aus den umliegenden Kibbuzim. Wir hatten uns in einem Orangenhain versteckt. Sie riskierten ihr eigenes Leben, um uns zu retten. Ohne sie wäre ich heute nicht hier.

Ich habe seitdem auch gelernt, dass selbst im tiefsten Dunkel ein kleines Licht bleibt, das eines Tages die Welt erleuchten kann.

Was danach kam, war Dunkelheit. Nicht nur die Bilder in meinem Kopf, nicht nur der Schmerz, mit dem wir für immer leben müssen. Sondern auch die Dunkelheit in der Welt. Die Musikszene in Berlin, auch international, die immer von Freiheit, von Vielfalt und Menschlichkeit spricht, blieb weitgehend still. Dabei war der 7. Oktober nicht nur ein Angriff auf Menschen. Es war ein Angriff auf alles, woran wir glauben und wofür wir stehen: Musik, Freiheit, Liebe, Menschlichkeit.

Seit dem 7. Oktober liegt ein Schatten über allem. Es ist ein leiser Schmerz, der sich nicht abschütteln lässt. Denn es kam nicht nur der Terror, sondern auch das Schweigen und die Gleichgültigkeit danach. Und der Hass mitten in der Gesellschaft: in Klubs, an Universitäten, auf den Straßen und in sozialen Medien. Ich habe Menschen tanzen sehen, in den schönsten Momenten ihres Lebens. Augenblicke später wurden sie von Terroristen erschossen. Und dann habe ich Bilder gesehen von anderen, die diesen Terror gefeiert haben. Und das in dem Land, das ich liebe und aus dem ich komme.

Wir antworten mit Musik. Mit Erinnerung. Mit Licht. Mit Liebe

Trotzdem sind wir hier. Wir glauben an das Gute und lassen uns nicht unterkriegen. Wir antworten mit Musik. Mit Erinnerung. Mit Licht. Mit Liebe. Unsere Botschaft ist klar: Terroristen haben uns angegriffen. Aber unsere Reaktion darauf ist, nicht zu hassen. Diese Macht geben wir ihnen nicht. Als in Manchester bei einem Ariana-Grande-Konzert ein Selbstmordattentäter 23 junge Menschen tötete, war die Welt zu Recht erschüttert. Als bei uns mehr als 400 junge Menschen brutal ermordet wurden, war das Schweigen ohrenbetäubend. Das ist es bis heute. Noch immer werden Menschen als Geiseln in Gaza festgehalten – darunter Besucher des Nova-Festivals. Sie kamen, um zu tanzen, zu feiern, zu leben. Und sind bis heute nicht zurück. Wir dürfen sie nicht vergessen.

Auch wenn es sich so anfühlt, als wäre immer noch der 7. Oktober, sind in den vergangenen zwei Jahren viele Dinge passiert. Die Welt dreht sich weiter, aber ein Teil von mir kommt nicht hinterher. Ich habe gelernt, wie laut Erinnerungen sein können, obwohl es still ist. Wie nah die Angst bleibt, auch wenn man überlebt hat. Wie der Körper heilt, aber die Seele nicht. Die Welt fühlt sich seither anders an. Härter, kälter, manchmal leer. Trotzdem halte ich an dem fest, was die Terroristen uns am 7. Oktober nehmen wollten: dem Leben.

Ich bin Vater geworden, während ich kaum stehen konnte. Heute kann ich wieder laufen. Meine Tochter fängt langsam an zu sprechen. Wenn meine Tochter mich eines Tages fragt, was am 7. Oktober 2023 passiert ist, werde ich ihr sagen: Es war ein Tag, an dem Terroristen, die ihr Leben dem Hass gewidmet haben, unvorstellbares Leid über uns gebracht haben. Ein Tag, an dem ich meine Freunde verlor und dem Tod entkommen bin. Aber ich habe seitdem auch gelernt, dass selbst im tiefsten Dunkel ein kleines Licht bleibt, das eines Tages die Welt erleuchten kann. We will dance again!

Der Autor ist Gründer der »Tribe of Nova Foundation«. In Berlin ist ab dem 7. Oktober eine Ausstellung zum Massaker auf dem Gelände des Nova-Festivals 2023 zu sehen.

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