Universität

Let›s talk!

Ein Student läuft hastig auf den kleinen Stand zu. »Schalom«, sagt er atemlos. »Ich bin Ole und habe eine Frage.« Wie das noch mal sei mit der Westbank, will er wissen. Ist das Gebiet unter israelischer Besatzung, oder wurde es annektiert, wie die Golanhöhen auch? Es entspinnt sich ein Gespräch über den Sechstagekrieg, das Völkerrecht, A-, B- und C-Zonen. Wer Ole vor der Mensa der Freien Universität (FU) Berlin Rede und Antwort steht, ist Shay Dashevsky.

Dass er aus Israel kommt, sollen an diesem Tag alle wissen: »I am from Israel. Ask me anything«, steht auf Shays T-Shirt, das er auf dem Campus in Dahlem trägt. Und wenn der 40-Jährige sagt, man könne ihn alles fragen, meint er das auch. Er geht keiner Diskussion aus dem Weg.

Seine Mission: An den Berliner Hochschulen mit möglichst vielen Studierenden ins Gespräch kommen. Mit solchen, die mehr über den jüdischen Staat erfahren wollen oder die wegen der israelfeindlichen Proteste an ihren Hochschulen verunsichert sind. Aber auch und gerade mit denen, die genau zu wissen glauben, was in Nahost vor sich geht – und die allein Israel die Schuld an allem geben.

Seine Mission: An den Berliner Hochschulen mit möglichst vielen Studierenden ins Gespräch kommen.

Letztere sind es, die an der FU den Ton angeben. Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem bis heute tobenden Krieg in Gaza kommt die Uni im Südwesten Berlins nicht zur Ruhe. Immer wieder ist sie wegen israelfeindlicher Besetzungen und Aktionen in den Schlagzeilen. Der jüdische FU-Student Lahav Shapira wurde im Februar von einem Kommilitonen verprügelt, weil er sich lautstark gegen diese Entwicklung an seiner Uni gewehrt hatte. An kaum einer anderen Hochschule in Deutschland sind Antisemitismus und Israelhass so präsent wie hier.

Auch Shay entgeht diese Stimmung nicht. »Die meisten Leute hier haben sich ihre Meinung schon gebildet«, sagt er. Es ist der zweite Tag, an dem er seinen Infotisch auf dem FU-Gelände aufgeschlagen hat. Auf Flyern und bunten Karten werden dort die üblichen Vorwürfe gegen den jüdischen Staat – Apartheid, Siedlerkolonialismus, Genozid – mit Fakten entkräftet.

»Fast alle waren nett und respektvoll«

Vor ein paar Wochen hat Shay Dashev­sky dasselbe bereits an der Technischen Universität (TU) Berlin gemacht. Auch diese Hochschule hatte ihre Antisemitismus-Skandale, und doch: »Fast alle waren nett und respektvoll«, sagt er im Rückblick. Fast. Auch hässliche Szenen gab es an der TU: Eine Studentin schrie »Mörder! Mörder!«, und ein junger Mann mit ägyptischen Wurzeln wollte sich im Gespräch partout nicht von seiner Meinung abbringen lassen, alle Juden müssten Israel verlassen.

Dass sich Shay dem aussetzt, hat für ihn einen simplen Grund: Er will nicht tatenlos bleiben, während der Hass auf sein Geburtsland in seiner Wahlheimat um sich greift. Vor sieben Jahren zog der Koch nach Berlin, wo er unter anderem Kurse über die israelische Küche anbietet. Shay versteht sich als links und, wie er selbst mit einem Augenzwinkern sagt, als »propalästinensischer Zionist«. Vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seiner Regierung hält er nicht viel. Doch als die Hamas im Oktober das schlimmste Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Schoa beging, fühlte er dasselbe wie alle Israelis: Schock, Entsetzen, Trauer.

»Dann begann der ganze politische Wahnsinn«, erzählt er, »und es nahm nicht ab, sondern wurde immer nur schlimmer und schlimmer.« Dieser Wahnsinn, merkte er schnell, würde an ihm auch in Berlin nicht vorübergehen. Der Hass erreichte sein nahes Umfeld, Shay verlor Freunde. Er beschloss, etwas zu unternehmen. Zusammen mit Gleichgesinnten, Israelis und Deutschen, Juden wie Nichtjuden, gründete er »Civil Watch Against Antisemitism«. Unermüdlich dokumentiert und veröffentlicht die Gruppe antisemitische Vorfälle in Berlin, wirbt um Unterstützung in Politik und bei Sicherheitsbehörden. Doch die Aktivisten wollten mehr tun. »Nicht nur reagieren, sondern agieren«, sagt Shay. So wurde die Idee geboren, dort aktiv die Diskussion zu suchen, wo die Fronten am stärksten verhärtet wirken: an den Universitäten.

Wer stehen bleibt und Fragen stellt, ist in der Regel wohlwollend

Shay Dashevsky und sein bunter Stand fallen auf an der FU. Wer vorbeiläuft, schaut hin. Manche abschätzig, andere irritiert oder überrascht. Wer stehen bleibt und Fragen stellt, ist in der Regel wohlwollend. So wie die Literaturstudentin Thekla. Sie habe die israelfeindlichen Besetzungen als einseitig und verleumdend wahrgenommen. »Ist das noch meine Uni?«, frage sie sich manchmal. Was Shay macht, findet sie »mutig und bewundernswert«. Genauso sieht das Lena, die an der FU Nordamerikastudien belegt. Sie sagt: »Es gibt zu wenig Dialog.«

Doch nicht alle sind an diesem Tag am Gespräch interessiert. Aus einer kleinen Gruppe heraus fotografiert ein Mann die Szene vor der Mensa. Shay läuft auf ihn zu. »Let›s talk«, sagt er, lass uns reden. »Du bist ein Lügner«, kommt zurück. Was er von der Hamas halte, will Shay wissen. Eine Antwort bekommt er nicht.

Ab und zu bröckeln selbst bei ideologisch gefestigten Aktivisten die Gewissheiten.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Israeli an Grenzen stößt. »Sie sind überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen«, sagt er über die »propalästinensischen« Aktivisten. Für die Hamas-Glorifizierung in ihren eigenen Reihen seien sie blind. Doch genau diese Menschen will Shay erreichen. »Sie sind naiv, doch für eine Verständigung brauchen wir ihre Energie und Leidenschaft«, sagt er. »Ich werde sie nicht zu Zionisten machen, aber sie könnten wichtige Stimmen für einen Frieden werden.«

Ab und zu kann Shay erleben, wie selbst bei ideologisch gefestigten Aktivisten die Gewissheiten bröckeln. Eine Studentin mit Kufiya, dem »Palästinensertuch«, konnte er in eine fruchtbare Diskussion über Zionismus verwickeln, erzählt er. Mit einem jungen Aktivisten namens Matthias tauschte er am Rande einer israelfeindlichen Demonstration sogar Handynummern aus. Zufällig begegneten sich die beiden an der FU wieder. Unter den Augen seiner skeptisch guckenden Freunde schüttelte Matthias Shay die Hand.

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