Niemals hätte ich mir vorstellen können, ich würde einmal diese Worte aussprechen: »Kinder, der Krieg ist vorbei.« Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mir kaum ausmalen können, jemals in einem dauerhaften Kriegszustand leben zu müssen. Ich wuchs mit dem Verständnis auf, dass Frieden und Freiheit über allem stehen. »Krieg«, sagten meine Eltern immer, »ist das Schlimmste, was es gibt«.
Natürlich war das Leben in Nahost oft von Konflikten, Gewalt und Terror überschattet. Und trotzdem schien das Motto immer: »Hurra, wir leben noch«. Wir genossen unser Leben, schauten nach vorn und hofften auf Frieden. Und dann kam der 7. Oktober. Damals, als sich die Tore der Hölle zu öffnen schienen und Dunkelheit über uns hereinbrach.
Zwei Jahre lebten wir unter einer düsteren Wolke, die schwer auf unseren Schultern lag. Fast täglich wachten wir zu schlechten Nachrichten auf, eine grausamer als die nächste. Tod und Zerstörung waren unsere Dauerbegleiter. Immer im Hinterkopf dazu die Sorge, wann die nächste Sirene kreischend unseren Alltag zerreißt, und wir wieder um unser Leben rennen müssen.
Seit zwei Jahren war ich nicht am Strand
Wir versuchten dennoch, so gut es geht, ein normales Leben zu leben. Oft scheiterten wir kläglich. Seit zwei Jahren sind mein Mann und ich nicht ausgegangen. Die Kinder allein zu lassen, wenn es Raketenalarm geben könnte, schien mir unvorstellbar. Seit zwei Jahren war ich auch nicht am Strand, der nur zehn Minuten zu Fuß von mir entfernt ist, und den ich so mag. Die Vorstellung, dass wir uns nicht schnell genug in Sicherheit bringen können, wenn wir in Badeanzügen im Sand liegen, bescherte mir statt Vorfreude eine ausgewachsene Panikattacke.
Wenn die Sirenen zu schrillen begannen und wir uns auf unsere Treppe kauerten, fragte ich meine Kinder, wie es ihnen geht. »Ist doch nur der Jemen«, wischten sie die Bedrohung oft scheinbar lapidar weg und zuckten mit den Schultern. Einige Male erwischte es sie sogar auf dem Schulweg, im Bus oder auf dem Fahrrad, als sie zu Freunden unterwegs waren. Dann rannten sie, ganz allein, auf der Straße herum, um in einem öffentlichen Bunker Schutz zu suchen. Kein noch so cooles Schulterzucken kann mir vormachen, dass das spurlos an ihnen vorübergeht. Ich weiß, was es mit mir macht. Was es in Kinderseelen anrichtet, verdränge ich bis heute.
Meine jüngste Tochter Eden war noch neun, als der 7. Oktober geschah. Ihr Geburtstag ist Ende Oktober. Der zehnte Geburtstag mit Freunden und Familie fiel aus. Ein Jahr darauf, wieder kurz vor ihrem Geburtstag, schickte der Iran Hunderte von Raketen gen Israel. Am selben Abend ermordeten Terroristen in der Tel Aviver U-Bahn sechs Menschen, viele weitere wurden verletzt. Diese Bahn benutzen meine Kinder fast täglich. Niemandem war zum Feiern zumute.
Nicht noch ein Jahr ohne Geburtstagsfeier für meine Tochter
In diesem Monat wird Eden zwölf. In Israel ist das natürlich nicht irgendein Geburtstag. Es ist die Bat Mitzwa, normalerweise ein riesengroßes Fest mit Familie und Freunden. Seit Wochen grüble ich, wie wir es feiern könnten. Wir haben keinen Sicherheitsraum in unserem Haus, was ist, wenn Raketen fliegen… Doch noch ein Jahr ohne Geburtstag. Das kann ich meiner Tochter nicht antun. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, redete ich mir immer wieder ein, um mich selbst zu trösten.
Was ich beschreibe, mag klein und unwichtig sein. Vor allem im Hinblick auf die Menschen, die im Krieg ihre Liebsten verloren haben, und unvorstellbar leiden. Und doch sind es diese Dinge, die das Leben lebenswert machen. Denn zwei verfluchte Jahre lang haben wir eher überlebt, denn wirklich gelebt.
An den Schulranzen meiner Kinder heften Anstecker in Form einer gelben Schleife, dem Symbol für den Kampf um die Befreiung der Geiseln in der Gewalt der Hamas. Wir sehen ihre Gesichter auf den Plakaten, die auf den Straßen im Wind wehen. Wir kennen ihre Namen, von manchen sogar die Geburtstage. Das Schicksal der Geiseln fühlt sich an wie das Schicksal des ganzen Landes, in dem wir leben und das wir lieben. Kommen sie frei, können wir endlich nach vorn schauen und heilen. Werden sie zurückgelassen und vergessen, sind wir verloren. Denn ein Land kann seine Brüder und Schwestern nicht einfach in der Hölle zurücklassen, nur eine Autostunde von hier entfernt.
Israelis sagen oft, sie könnten »nicht mehr atmen«. Tatsächlich scheint das Atmen schwer. Die Luft ist dick vom Trauma, die Stimmung angespannt vor Sorge. Auch die Unmenschlichkeit eines jeden Krieges, die von Machthabenden oft als »Normalität des Krieges« verklärt wird, lastet auf den Menschen. Ich will es nicht als »normal« empfinden, wenn unschuldige Menschen sterben. Egal, ob auf israelischer, palästinensischer oder irgendeiner Seite. Ich will auch nicht zynisch werden, Zynismus ist das Gegenteil von Hoffnung, ja das Gegenteil vom Leben. Und ich will jetzt nur eins: Endlich mein normales Leben – unser aller Leben – zurück.
An diesem Donnerstagmorgen wache ich durch Regentropfen auf, die gegen das Fenster prasseln. Schlaftrunken stolpere ich auf die Dachterrasse, um die Stuhlkissen einzusammeln. Meine älteste Tochter ist gerade im Urlaub. Sie hat mir geschrieben: »Mami, hast du schon gelesen? Der Krieg soll zu Ende sein.« Ich spüre, wie ich tief durchatme. Dann öffne ich die Nachrichtenkanäle.
Ich gehe die Treppe hinunter in Edens Zimmer. Sie ist schon wach, immer die Frühaufsteherin. Ich will ihr sagen, dass wir unbedingt die Party für ihre Bat Mitzwa planen müssen, und kann meine Aufregung kaum verbergen. Doch sie ist im Bad und putzt die Zähne.
Nebenan ist das Zimmer von meinem Sohn. Ganz der Teenager kann Dean zwölf Stunden am Stück schlafen. Natürlich liegt er noch in seine Decke eingewickelt im Bett. Ich stupse ihn sanft an. »Was denn?«, brummt er verschlafen. »Dibi, die Geiseln sollen nach Hause kommen.« Er öffnet die Augen und blinzelt, dreht den Kopf fragend zur Seite. »Alle?« »Ja, mein Schatz. Alle.« Meine kleine Tochter kommt aus dem Bad und fragt, was los sei. »Kinder«, sage ich lachend und nehme beide fest in die Arme, »Kinder, der Krieg ist vorbei«.