Tel Aviv

Jede Minute zählt

Die Menschen in Israel zählen die Minuten. Amit Rose sowieso. Sie ist hochschwanger. Eigentlich hätte ihr Baby vor einer Woche geboren werden sollen. »Da war die Welt wenigstens noch halbwegs in Ordnung«, sagt sie und streicht über ihren Bauch. Sie versucht ein Lachen, doch nach der vergangenen Nacht klingt es gequält. Nur eine Straße entfernt schlug eine Rakete aus dem Iran ein.

»Wir waren im unterirdischen Bunker unseres Hauses, die Wände haben gewackelt. Als wir wieder hochkamen, waren im Flur die Scheiben geborsten, in unserer Wohnung Fenster aus den Angeln gerissen. Aber wir sind okay.« So okay, wie man in einer derartigen Situation eben sein kann, fügt sie hinzu. »Der Gedanke, mit einem Neugeborenen im Arm um sein Leben rennen zu müssen, ist extrem stressig«, sagen Amit und ihr Mann Daniel. Doch sie war schon immer ein positiver Mensch: »Ich freue mich so auf mein Baby. Ich möchte es endlich im Arm halten und denke nur daran.«

Wie lange von der Sirene bis zum möglichen Einschlag?

Zeit spielt in diesen Tagen eine übergeordnete Rolle. Wie lange dauert es vom Amber-Alert auf dem Telefon bis zur Ankunft der ballistischen Raketen aus dem Iran? Wie lange von der Sirene bis zum möglichen Einschlag? Während die Menschen seit Jahrzehnten an Raketenangriffe gewöhnt sind, fühlt sich dieser Krieg zwischen Israel und dem Iran anders an.

Seit Freitag wachen die Israelis fast jeden Morgen mit Nachrichten über Tote und Verletzte in ihren Städten auf. »Es ist apokalyptisch«, findet Sam Friedman, der sich in einem Supermarkt mit Milch und Butter eindeckt. »Manche Straßen Tel Avivs sehen aus wie in Gaza. So etwas habe ich in meinen 15 Jahren hier noch nie erlebt«, sagt der ehemalige New Yorker und schüttelt den Kopf. »Und ich habe schon viel erlebt.«

Immer wieder wird der nächtliche Himmel über Israel von Leuchtspuren und Feuerbällen eintreffender Geschosse und heimischer Abfangraketen erhellt. Schulen, Kindergärten, Universitäten, Restaurants, Büros und Läden sind seit vergangenem Freitag im ganzen Land bis auf Weiteres geschlossen. Versammlungen sind untersagt. Lediglich »essenziellen Geschäften« wie Supermärkten, Bäckereien und Apotheken ist es erlaubt zu öffnen. Der Flughafen ist verrammelt, der Luftraum abgesperrt, fast niemand kann das Land verlassen. Die direkten Einschläge iranischer Raketen, offenbar mit massiven Sprengköpfen bestückt, in Wohngebieten im Zentrum des Landes haben große Zerstörung angerichtet. Immer wieder sind heftige Explosionen zu hören.

Eine Nacht später kam es in der arabischen Stadt Tamra im Norden des Landes zur Tragödie.

In einem Hochhaus, das von einem iranischen Geschoss getroffen wurde, berichteten die Bewohner von Panik und Chaos. Rettungskräfte waren stundenlang vor Ort und suchten die zerstörten Teile des Gebäudes ab, um sicherzustellen, dass niemand eingeschlossen oder verschüttet ist. »Dies ist ein Ereignis von einem Ausmaß, das wir so noch nie erlebt haben«, sagt Michael David, der Leiter des Heimatfront-Kommandos der Armee in Tel Aviv.

In derselben Nacht zerstörte eine Rakete mehrere Häuser in Rischon LeZion. Zwei Menschen starben bei dem Angriff, 19 wurden verletzt. Ein drei Monate altes Mädchen wurde aus einem der zerstörten Häuser gerettet. »Ich zog sie aus den Trümmern, nahm sie in den Arm und gab sie dem ersten Polizisten, den ich sah. Anschließend begann ich, alle anderen Familienmitglieder herauszuholen«, berichtete Feuerwehrhauptmann Idan Chen anschließend.

Eine Nacht später kam es in der arabischen Stadt Tamra im Norden des Landes zu einer Tragödie. Bei einem direkten Einschlag im Haus der Familie Khatib kamen Manar Khatib, ihre beiden Töchter Hala (13) und Shada (20) sowie die Schwägerin Manar Diab ums Leben. »Ich habe sie alle in einem einzigen Augenblick verloren«, sagte der weinende Familienvater Raja Khatib am nächsten Morgen vor israelischen Fernsehkameras. »Es passierte in Sekundenschnelle – sie hatten keine Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.« Die Familie war erst drei Tage zuvor von einer Reise nach Italien zurückgekehrt. »Meine schönsten Blumen sind tot. Dieses Gefühl wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind.«

Angst vor direkten Einschlägen

Die Menschen haben panische Angst vor direkten Einschlägen. Seit vergangenem Freitag sind die Straßen in den Städten des ganzen Landes fast wie leergefegt. Nur die Fahrradkuriere sind rund um die Uhr im Einsatz. »Die Menschen bestellen pausenlos, am meisten im Supermarkt«, sagt Yuri Khavkin, der seit vier Tagen Extraschichten fährt. »Der Krieg ist schlimm«, ruft er, lädt die Tüten in die quadratische Box auf seinem Gepäckträger und springt auf sein Elektrorad, bereit für die nächste Runde, »aber Israel ist stark und wird gewinnen«.

Da die Schulen geschlossen sind, findet der Unterricht per Zoom statt. »In der ersten Stunde sprechen wir darüber, wie sich die Kinder fühlen. Das ist bei dieser emotionalen Belastung das Wichtigste«, sagt Orit Natan, Lehrerin an einer Grundschule. Oft seien die Eltern damit beschäftigt, drei Mahlzeiten zuzubereiten und den Haushalt zu erledigen, während sie die Sicherheitslage im Hinterkopf haben. »Alle stehen unter maximalem Stress. Wir Lehrerinnen und Lehrer versuchen dabei zu helfen.«

Auf der Allenby-Straße ist Schlomo Gat mit Reparaturen beschäftigt. Der Elektriker aus Petach Tikwa ist hier, um Leitungen zu reparieren, die in der vergangenen Nacht im Zentrum von Tel Aviv bei einem iranischen Angriff zerstört wurden. Er meint, die militärische Auseinandersetzung mit dem Iran sei lange überfällig gewesen. »Es darf kein Regime geben, das Atomwaffen baut und Israel mit der Zerstörung droht.« Es sei die »absolut richtige Entscheidung« von Premierminister Benjamin Netanjahu gewesen.

»Eine halbe Stunde Normalität«

15 Minuten Fußweg entfernt sitzt Yael Kadosch mit der dreijährigen Maya auf einem Spielplatz und isst ein Eis. »Eine halbe Stunde Normalität.« Sie setzt ihre Tochter in die Schaukel und schiebt sie an. »Es ist schlimmer als alles, was wir bisher erlebt haben. Jede Nacht Tote und Hunderte von Verletzten. Das gab es noch nie«, sagt sie. »Vier Nächte sind wir schon aus dem Bunker rein- und wieder rausgerannt, immer mit zwei Kleinkindern und einem Hund im Schlepptau. Wir sind völlig erschöpft und haben keine Ahnung, wie lange das noch so weitergeht.« Politik interessiere sie nicht, sie wolle nur in Frieden leben und ihre Kinder aufwachsen sehen. »Seit eineinhalb Jahren sind wir in einem Albtraum gefangen. Wenn wir etwas Hoffnung schöpfen, kommt ein neuer Schlag. Ich habe panische Angst um unser Leben.«

Damit Mütter und Babys vor Raketen geschützt sind, wurde der Kreißsaal verlegt.

Zehn Minuten brauchen die ballistischen Raketen, um die rund 1500 Kilometer vom Iran bis nach Israel zurückzulegen. Schrillt die Sirene, haben die Menschen noch etwa eineinhalb Minuten Zeit. An Schlaf ist dabei kaum zu denken. Auch im Bunker an der Metulla-Straße in Tel Aviv schläft kaum jemand. Am Montag waren mehr als 50 Leute hier, viele mit Kleinkindern und Hunden. Die meisten haben keinen eigenen Schutzraum im Haus. Aber einige sind auch gekommen, weil sie den sogenannten Mamadim, den Räumen mit verstärkten Wänden und Metallplatten vor den Fenstern in den eigenen Wohnungen, nicht mehr trauen. Sie sorgen sich, dass diese für die enorme Sprengkraft der iranischen Geschosse nicht ausreichend sind, wie es in Petach Tikwa der Fall war, wo zwei Menschen bei einem direkten Einschlag getötet wurden.

Auch Adi Cohen ist hier. Im Raum mischen sich Sirenengeheul mit Stimmengewirr, Hundegebell und Handyklingeln zu einer Kakophonie des Krieges. »Ob ich dafür bin, dass wir den Iran angegriffen haben? Nein, absolut nicht«, macht er klar. »Natürlich ist das iranische Regime extremistisch, und es wäre gut, wenn es weg wäre. Doch warum müssen wir unser Leben riskieren, um es zu Fall zu bringen? Das ist nicht unsere Verantwortung. Und wo sind die Amerikaner?« Der Student der Politikwissenschaften ist stattdessen überzeugt, dass Premier Netanjahu den Zeitpunkt des Angriffs auch für sein politisches Überleben gewählt hat. »Das iranische Volk interessiert ihn nicht im Geringsten. Auch sein eigenes ist ihm leider egal. Es geht Netanjahu einzig darum, an der Macht zu bleiben.«

»Bis zum nächsten Mal«, sagen die Nachbarn, »denn das wird es leider geben«

Sein Sitznachbar, Mosche Atias, widerspricht vehement. »Bibi hat das gemacht, um das israelische Volk zu retten.« Während die beiden Männer noch diskutieren, wer recht hat, bewegen sich die Menschen langsam wieder in Richtung Ausgang. Es ist kurz nach vier Uhr morgens. Entwarnung. »Bis zum nächsten Mal«, sagen die Nachbarn, »denn das wird es leider geben.«

Darüber ist auch Amit Rose besorgt, die Schwangere, die auf ihr Kind wartet. Vor der Geburt habe sie keine Angst, sagt sie. »Die wird in unterirdischen Räumen sein. Denn der Kreißsaal des Krankenhauses wurde verlegt, damit Mütter und Babys auf jeden Fall vor Raketen geschützt sind.« Ein wenig amüsiert sie das. »Es ist schon eine komische Situation – aber dann kann ich meinem Sohn später wenigstens eine richtig gute Geschichte erzählen.«

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