Meinung

Israels scheinheilige Kritik an Macron und Starmer

Politik fängt immer zuhause an, und auch Außenpolitiker sind bis zu einem gewissen Grad immer Gefangene ihrer eigenen Wählerschaft oder Echokammern.

Dass bei der Kritik an der Anerkennung eines Palästinenserstaates durch westliche Regierungen ausgerechnet dieser Aspekt betont wird, erstaunt daher. Viel Tinte wurde schon verbraucht, um die wahren Motive hinter den Entscheidungen von Keir Starmer, Emmanuel Macron und anderen Regierungschefs zu ergründen, als diese nun einen palästinensischen Staat anerkannten. Die tun das doch nur aus innenpolitischen Interessen, schimpfen nun viele.

Das mag durchaus sein. Aber auch die andere Seite, die diesen Schritt so vehement ablehnt, hat vor allem innenpolitische Motive. Den Schritt vieler westlicher Partner Israels kann man getrost als die größten außenpolitische Niederlage einer israelischen Regierung seit Generationen bezeichnen.

Siedlungsausbau geschah bisher stillschweigend

Jahrzehntelang haben israelische Regierungen – auch linke, aber vor allem rechte – stetig die Siedlungen im Westjordanland ausgebaut. Die Linke tat dies in Gebieten, die sie als entscheidend für die Sicherheitsinteressen Israels ansah und von denen sie annahm, dass Israel sie auch nach einem Friedensabkommen mit den Palästinensern behalten würde.

Die Rechte hingegen zog es vor, in Gebieten zu siedeln, die zuvor unbewohnt waren oder auf abgelegenen Hügeln lagen. Ihr Ziel war und ist es, jede Form von geografischer Kontiguität und damit das Entstehen eines palästinensischen Staates zu verhindern. Was derzeit im sogenannten E1-Gebiet geschieht, ist Ausdruck dieser langjährigen Politik.

Was die Linke und die Rechte in Israel aber gemeinsam hatten, war, dass sie ihre Expansion im Westjordanland weitgehend still und leise durchführten. Und beide Lager bemühten sich, trotz der vor Ort geschaffenen Fakten die diplomatische Unterstützung der Verbündeten in Europa und Nordamerika aufrechtzuerhalten. Während in der Heimat radikale Minister auf neue Siedlungen pochten, gaben Likud-Premierminister oder Außenminister in Washington, London und Paris oft Erklärungen ab, um sicherzustellen, dass Israels Unterstützung nicht erodierte.

Es war eine politische Gratwanderung. Doch sie gelang weitgehend. Israels Verbündete, obwohl sie die Siedlungspolitik strikt ablehnten und sich einer Zwei-Staaten-Lösung verpflichtet sahen, gingen nie so weit, die palästinensische Eigenstaatlichkeit formal anzuerkennen.

Aktuelle Regierung will die gesamte Westbank annektieren

Doch jetzt ist alles anders, im Innern und nach außen. Fast alle Mitglieder der amtierenden israelischen Regierung lehnen einen palästinensischen Staat entschieden ab, und das nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Fast alle Mitglieder der israelischen Regierung würden, wenn es in ihrer Macht stünde, gern das komplette Westjordanland annektieren. Allenfalls würden sie den Palästinensern noch einige Gebiete im sogenannten Gebiet A zugestehen, das seit den Osloer Verträgen unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) steht.

Was mit dem Westjordanland geschieht, ist für die meisten rechten Minister viel wichtiger als die Zukunft des Gazastreifens. Die PA und nicht die Hamas ist der Hauptfeind der Regierung Netanjahu. Anders als bei früheren Gelegenheiten schämen sich ihre Mitglieder auch nicht mehr, dies offen zuzugeben.

Ein weiterer wichtiger innenpolitischer Faktor ist die Tatsache, dass die Partei des Premierministers keine wirklich säkularen, nicht-religiösen Mitglieder von Bedeutung mehr hat. Die Zahl der religiösen und sogar ultraorthodoxen Likud-Mitglieder steigt, und kein Minister kann ohne ihre Unterstützung seine Wiederwahl sichern.

Deshalb passt zwischen die Ansichten der meisten Likud-Politiker zur Zweistaatenlösung und die von Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir auch kein Blatt Papier mehr. Benjamin Netanjahu weiß, woher der Wind weht. Deshalb gelingt es ihm auch nach 30 Jahren so gut, sich an der Macht zu halten.

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Die Entwicklungen im Likud spiegeln einen Trend in der weiteren israelischen Gesellschaft wider. Zu Beginn des neuen Schuljahres wurden zum ersten Mal mehr jüdische Kinder an religiösen Schulen eingeschult als an staatlichen oder säkularen. Dies gilt sowohl für den religiös-nationalistischen als auch für den charedischen Sektor und ist ein weiterer Grund, warum sich jeder rechtsgerichtete Politiker in Israel verpflichtet fühlt, selbst mitten im Krieg Haredim, die sich der Wehrpflicht entziehen, zu beschwichtigen.

Man kann mit Fug und Recht schon jetzt behaupten: Es wird keine israelische Regierung unter Führung des Likud geben, wenn diese nicht auf die Unterstützung der reaktionärsten Elemente der Gesellschaft zählen kann. Deshalb versucht Israels Außenminister Gideon Sa’ar, der aussichtsreichste Kandidat für die Nachfolge Netanjahus, nicht einmal, die europäischen Regierungen zu beschwichtigen und zumindest hinter verschlossenen Türen mildere Töne anzuschlagen, wie es Außenminister des Likud in der Vergangenheit taten. Denn ein solches Handeln könnte Sa’ars politische Karriere mit einem Schlag beenden.

Radikale auf beiden Seiten geben seit 30 Jahren den Ton an

Israel befindet sich aktuell in einer seltsamen Lage. Trotz des schlimmsten Massakers an Juden seit der Schoa ist es ein international geächteter Staat geworden. Wenn also israelische Politiker und ihre Anhänger im Westen genauso daherreden wie die extreme Rechten in Europa, wenn sie gemäßigten europäischen Regierungschefs vorwerfen, nur auf die »muslimische Wählerschaft« zuhause zu schielen, darf man schon zurückfragen, was sie selbst antreibt.

Und ja, auch die palästinensische Gesellschaft hat sich leider in diese Richtung entwickelt, auch dort haben die Radikalen Oberwasser. Westliche Politiker können und sollten aber nicht länger so tun, als hätte sich nichts geändert. Sie müssen ihre Politik überdenken und unabhängiger auftreten.

Denn seit fast 30 Jahren bestimmen Gegner der Zwei-Staaten-Lösung beziehungsweise Befürworter eines Ein-Staaten-Modells die Nahostpolitik - sowohl in Israel als auch auf palästinensischer Seite. Langmütig hat die internationale Gemeinschaft dem Treiben zugesehen und das perfide Spiel der radikalen Kräfte mitgespielt. Zu ihnen gehören die Hamas, die Selbstmordattentäter, die Regime im Iran und in Katar. Zu ihnen gehören aber auch die radikale israelische Siedlerbewegung, jene Kräfte, die Israels Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin ermordeten und auch die Trump-Regierung. Sie waren es, die politisch den Ton vorgaben, als im Nahen Osten eine Feuersbrunst die nächste jagte. Sie alle waren es, die dem Frieden im Weg standen.

Nun haben Australien, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Kanada und anderer westlicher Länder ein Stoppschild aufgestellt und gesagt: Genug ist genug. Sie haben eine klare Botschaft ausgesendet an die radikalen Kräfte im Nahen Osten: Wenn ihr diesen Weg weitergeht und nicht einmal mehr versucht, uns einzubinden, könnt ihr euch zum Teufel scheren.

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