Es ging um viel in Israel bei den fünften Parlamentswahlen in dreieinhalb Jahren. Knapp 6,8 Millionen Israelis waren aufgerufen, ihre Stimme für die 25. Knesset abzugeben.
Mit Schließung der Wahllokale um 22 Uhr wurden die ersten Prognosen auf Basis von Nachwahlbefragungen veröffentlicht. Ein klares Bild des Wahlausgangs wird jedoch erst nach Auszählung der gesamten Stimmen erwartet.
ZUKUNFT Mit einem endgültigen Ergebnis wird nicht vor Donnerstag gerechnet. Doch schon am Abend zeichnete sich ab, dass Israel sich entschieden hat. Und wesentlich weiter nach rechts rückt. Den Befragungen zufolge ist der rechtsgerichtete Likud von Ex-Premiers Benjamin Netanjahu mit 30 bis 31 Sitzen stärkste Partei, gefolgt von der liberalen Zukunftspartei Jesch Atid des derzeitigen Ministerpräsidenten Yair Lapid mit 22 bis 24 Sitzen. Lapid hatte am Morgen gesagt: »Geht heute wählen, für die Zukunft unserer Kinder, für die Zukunft unseres Staates«.
Keine Partei in Israel hat die absolute Mehrheit oder kommt auch nur in die Nähe. Deshalb müssen Koalitionen gebildet werden, meist innerhalb der beiden Blöcke. Um den rechtsgerichteten Likud gruppieren sich die ultraorthodoxen Parteien Vereintes Tora-Judentum und Schas sowie die Rechtsextremen.
Netanjahu hoffte am Morgen, dass er den Abend »mit einem Lächeln beenden kann«.
Der Mitte-Linksblock besteht aus der Zentrumspartei Jesch Atid von Yair Lapid, derzeit Premierminister, der Partei um Verteidigungsminister Benny Gantz, Blau-Weiß, den Linksparteien Awoda und Meretz sowie eventuell der islamistischen Partei Raam. Dem Block wurden am Abend 54 Mandate vorausgesagt. Allerdings war nicht klar, ob andere arabische Parteien es über die 3,25-Prozenthürde in die Knesset schaffen würden.
CHEFSESSEL Eine regierungsfähige Koalition auf die Beine zu stellen hatte sich durch die Zersplitterung des israelischen Parteiensystems bereits bei den vorherigen vier Wahlen als nahezu unmögliches Unterfangen erwiesen. Allerdings wurden noch am Dienstagabend dem früheren Premierminister Netanjahu, der am längsten auf dem Chefsessel in Jerusalem gesessen hatte, 62 Mandate für seinen Block prognostiziert. Damit hätte er die Mehrheit der Sitze in der Knesset.
Sein Wunsch vom Morgen, dass er »den Abend hoffentlich mit einem Lächeln beendet«, dürfte sich damit erfüllt haben. Nach der Veröffentlichung der Umfrage sagte er allerdings, dass er auf »die echten Zahlen wartet, bevor er sich äußert«.
Dem 73-Jährigen wird derzeit in Jerusalem der Prozess wegen Korruption in drei Fällen gemacht. Sein potenzieller Koalitionspartner Ben-Gvir hatte bereits getönt, er werde ein Gesetz einbringen, das den Prozess gegen Netanjahu stoppen werde.
DISKREPANZEN Yohanan Plesner, Präsident des Israel Democracy Institute, betonte, dass die Wahlausgangsumfragen durchaus einen Trend anzeigen können, es jedoch in den vergangenen Jahren Diskrepanzen zwischen den Umfragen und den tatsächlichen Ergebnissen gab.
»Doch wenn sich die Ergebnisse, die wir heute Abend sehen, bewahrheiten, ist die Koalition, die die nächste Regierung bilden wird, bereit, eine Reihe von Reformen vorzuschlagen, die darauf abzielen, die Justiz zu politisieren und die zwischen den Regierungszweigen bestehenden Kontrollmechanismen zu schwächen, die als grundlegende Bestandteile der israelischen Demokratie dienen.«
»Wenn die Änderungen umgesetzt werden, würden sie die Unabhängigkeit unserer Justiz gefährden und das politische System systematischer Korruption aussetzen.«
IDI-präsident, yochanan plesner
Es stehe viel mehr auf dem Spiel als Netanjahus laufendes Strafverfahren. »Wenn diese Änderungen umgesetzt werden, würden sie die Unabhängigkeit unserer Justiz gefährden und könnten Israels politisches System systematischer Korruption aussetzen.«
WAHLMÜDIGKEIT Trotz der Häufigkeit des Regierungswechsels in Jerusalem war von Wahlmüdigkeit keine Spur, die Beteiligung so hoch wie seit 1999 Jahren nicht mehr. Mehr als 66,3 Prozent hatten bis 20 Uhr an diesem warmen 1. November ihre Stimmen abgegeben. Der Wahltag ist in Israel ein Feiertag, so verbanden viele die demokratische Pflicht mit einem Familienausflug an den Strand oder in einen der Parks.
Es waren wohl vor allem die Rechtsaußenwähler, die bei den vorherigen Wahlen nicht aufgetaucht waren, und jetzt an den Urnen das entscheidende Zünglein an der Waage wurden. Doch noch ist in Israel nichts bestätigt.
Vor sieben Jahren waren die Israelis mit der Gewissheit ins Bett gegangen, dass das liberale Bündnis von Zipi Livni und Isaac Herzog die meisten Stimmen geholt hatten. Am Morgen danach wachten sie mit Netanjahu als Premierminister auf.