Blass ist er – und völlig ausgemergelt. Unter dem T-Shirt und der Jogginghose kann man erahnen, wie schmal er geworden ist. Doch Evyatar David lacht, wirft Luftküsse in Richtung der Menge, die ihm zujubelt, und schlägt die Hände vors Gesicht, als könne er nicht fassen, dass er wirklich hier ist, in Israel. In dem Wagen, der ihn ins Krankenhaus bringt. 738 Tage Geiselhaft in der Gewalt der Hamas, im Gazastreifen, unter Bedingungen, die jedes Vorstellungsvermögen sprengen. Jetzt ist er frei. Er lebt, er liebt, er lacht. Es geht nach Hause – HaBaita.
Anfang August ging ein Aufschrei durch Israel – und weit darüber hinaus. Die Hamas veröffentlichte ein Propaganda-Video, das die Nation erschütterte. Darin ist der 24-jährige Evyatar David zu sehen, in kurzer Hose, mit wirrem Haar, wie er in den Tunneln unter dem Gazastreifen sein eigenes Grab schaufelt. Sein abgemagerter Körper, der leere Blick – Bilder, die sich einbrennen. Viele Israelis weinten beim Anblick des jungen Mannes, der am 7. Oktober 2023 beim Massaker der Hamas vom Nova-Musikfestival entführt wurde. Das Schicksal von Evyatar stand seitdem für die Dringlichkeit, alle Geiseln endlich nach Hause zu bringen.
Am Montagmorgen, kurz nach sieben Uhr, läuft die Meldung über alle Kanäle: »Sie sind nicht mehr in den Händen der Hamas!« Die ersten sieben israelischen Geiseln – Eitan Mor, Guy Gilboa-Dalal, Matan Angrest, Omri Miran sowie die israelisch-deutschen Doppelstaatsbürger Alon Ohel und die Zwillinge Gali und Ziv Berman – sind von der Terrororganisation an das Rote Kreuz übergeben worden. »Hem beseder we baRaglajim«, rufen Kommentatoren aufgeregt in die Kameras: Es geht ihnen gut, sie stehen auf den Beinen. Für einen Moment steht die Zeit still.
70.000 auf dem Platz der Geiseln
Auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv haben sich an diesem Morgen rund 70.000 Menschen versammelt. Als die Nachricht eintrifft, brechen Jubel und Erleichterung aus – Menschen tanzen, umarmen sich, weinen. Um zehn Uhr dann der erlösende Satz: »Es gibt keine lebenden Geiseln mehr in Gaza.«
Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen.
Matan Zangauker, Maxim Herkin, Rom Braslavski, Elkana Bohbot, Yosef-Haim Ohana, Nimrod Cohen, Segev Kalfon, Bar Kuperstein, Avinatan Or, Eitan Horn, Evyatar David sowie Ariel und David Cunio – sie alle sind auf dem Weg nach Hause. Ganz Israel scheint tief Luft zu holen und zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder zu atmen.
Videos und Bilder zeigen den Moment, in dem Segev Kalfon (27) und die Brüder David (35) und Ariel Cunio (28) im Gazastreifen der israelischen Armee übergeben werden. Es sind die ersten Aufnahmen der drei verschleppten Männer seit dem 7. Oktober 2023.
Einige Stunden später lehnt sich der ältere der Cunio-Brüder aus dem Fenster eines Autos. »Euretwegen bin ich hier. Euretwegen …«, ruft er, die Fäuste zum Himmel gereckt. Freunde und Bekannte am Straßenrand antworten mit Handherzen.
Zwei Jahre lang Geisel in Gaza – isoliert und allein
David Cunio hatte seinen Bruder Ariel erst an diesem Morgen wiedergesehen. Zwei Jahre lang war auch der 28-Jährige Geisel in Gaza gewesen – isoliert und allein. Ein Schicksal, das die Bermans teilen. Auch die beiden 28-Jährigen aus dem Kibbuz Kfar Aza treffen bei ihrer Befreiung zum ersten Mal nach 738 Tagen wieder aufeinander. Ein Foto zeigt sie, wie sie einander ansehen – fassungslos, als könnten sie kaum glauben, dass sie den Horror überlebt haben.
Andere hatten nicht so viel Glück. Bei zwei verschleppten Männern – dem Nepalesen Bipin Joshi und Tamir Nimrodi, auch er Deutsch-Israeli – herrschte zunächst Unklarheit über ihren Zustand. Dann kam die traurige Gewissheit: Sie kehren in Särgen zurück. Nimrodi, ein Soldat, war erst 18 Jahre alt. Für seine Eltern ist es die Nachricht, vor der sie »so große Angst« hatten. Ein Freund erzählt, Joshi habe während des Hamas-Angriffs eine Granate aus dem Bunker geworfen – und so Leben gerettet. Seine Familie schreibt: »Uns ist der Boden unter den Füßen weggezogen worden.«
Auch andere tote Geiseln werden an Israel übergeben: Yossi Sharabi, Guy Illouz, Uriel Baruch, Daniel Peretz, Eitan Levy, Muhammad Alatrash, ein beduinischer Spurenleser der israelischen Armee, und die letzte weibliche Geisel in Gaza, Inbar Hayman.
US-Präsident Donald Trump vermittelte Waffenstillstand in Gaza
Nur vier Tage zuvor, am 29. September, war das von US-Präsident Donald Trump vermittelte Abkommen über einen Waffenstillstand in Gaza und die Freilassung aller 48 Geiseln unterzeichnet worden – der 20 Überlebenden und der Toten.
Am Montagmorgen landet Trump in Israel. Er bleibt nur wenige Stunden, doch im ganzen Land ist die Dankbarkeit spürbar. Überall wehen amerikanische Flaggen, auf Plakaten steht: »Thank you, Mr. President.«
Es ist kein gewöhnlicher Besuch, sondern ein triumphaler Siegeszug. In der Knesset wird er als »Präsident des Friedens« bejubelt – minutenlang mit stehendem Beifall.
Netanjahu über Trump: Der größte Freund, den Israel je im Weißen Haus hatte
»Sie sind der größte Freund, den Israel je im Weißen Haus hatte«, sagt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der dem Abkommen noch in Washington zugestimmt hatte. Auch Trump überschüttet »Bibi«, die Angehörigen der Geiseln und ganz Israel mit Lob. Während die beiden im Parlament sprechen, treffen die befreiten Männer zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren ihre Familien wieder.
In der Militärbasis Re’im geht Bar Kuperstein in einen Raum, wo sein Vater Tal auf ihn wartet. Als der junge Israeli ins Zimmer kommt, steht sein Vater auf, um ihn zu begrüßen. Jahrelang hatte er im Rollstuhl gesessen – und monatelang für diesen Moment trainiert. »Ich werde stehen, wenn Bar nach Hause kommt«, hatte er versprochen. Und er hält Wort, nimmt seinen Sohn in die Arme und sagt: »Ich liebe dich, Bar.«
Der Weg der Rehabilitation könne Wochen, Monate, vielleicht Jahre dauern
Der Zustand der freigelassenen Geiseln, die im Sheba Medical Center behandelt werden, sei »insgesamt stabil«, erklärt Itai Pessach, der stellvertretende Generaldirektor des Krankenhauses. Mehr könne er nicht sagen. Doch eines sei klar: Der Weg der Rehabilitation nach so langer Zeit in Geiselhaft werde ein weiter sein – er könne Wochen, Monate, vielleicht Jahre dauern. »Aber sie haben noch an diesem Tag begonnen, die ersten Schritte zurück ins Leben zu gehen.«
Sie lachen, halten sich im Arm und sehen sich immer wieder in die Augen.
Auch in der Familie von Matan Angrest fließen an diesem Tag Freudentränen. Noch wenige Wochen zuvor hatten seine Eltern die Nachricht erhalten, dass sich der Gesundheitszustand des 22-jährigen Soldaten dramatisch verschlechtert habe – er könne »bald sterben«. Seine Mutter, Anat Angrest, flehte die Regierung an: »Holt ihn endlich aus Gaza heraus!«
Eltern im Warteraum umarmen sich, weinen und lachen zugleich
Als am Montag die ersten Bilder über die Bildschirme flimmern – Matan, wie er mit einer Soldatin spricht –, hält es die Eltern im Warteraum von Re’im nicht mehr auf den Stühlen. Sie springen auf, umarmen sich, weinen und lachen zugleich.
Am selben Abend berichtet Anat Angrest, ihr Sohn habe »in Gaza Schlimmes erlebt«. An seine Entführung aus dem Panzer erinnere er sich nicht, doch in den ersten Monaten sei er oft gefoltert und verhört worden – daran erinnere er sich sehr wohl. Und doch steht er schon am Abend seiner Befreiung da, scherzt und singt gemeinsam mit seinem Lieblingssänger Omer Adam, der ihn spontan anruft, einen seiner größten Hits.
In einem Zimmer nebenan sieht Avinatan Or in diesem Moment seine Freundin Noa Argamani wieder – auch sie war Geisel in Gaza. Der knapp zwei Meter große Mann stürzt auf sie zu, umarmt sie so fest, dass beide aufs Sofa fallen. Sie lachen, halten sich im Arm und sehen sich immer wieder in die Augen.
Monatelang in einem Käfig angekettet
Der 32-jährige Or, erfährt man später, war nach einem Fluchtversuch aus einem Tunnel monatelang in einem Käfig angekettet – kleiner als er selbst. Er habe 30 bis 40 Prozent seines Körpergewichts verloren und sei unter »extrem harten Bedingungen« allein, unter der Erde, gefangen gewesen.
»Zwei Jahre sind vergangen, seit ich Avinatan, die Liebe meines Lebens, zum letzten Mal sah«, schreibt die 28-jährige Noa in den sozialen Medien. »Zwei Jahre seit dem Moment, als Terroristen uns entführten und mich vor den Augen der Welt von Avinatan wegrissen. Doch trotz aller Widrigkeiten und nachdem wir dem Tod unzählige Male ins Auge blickten, kamen wir nach Hause und sind wieder vereint.«
Später fliegen die beiden gemeinsam im Helikopter. Sie blicken aus dem Fenster auf das Land und lächeln. Ihre Fesseln sind gelöst. Avinatan und Noa sind frei.