In einem erschütternden Interview mit der »Zeit« hat Tal Schoam, eine der bekanntesten ehemaligen Geiseln der Hamas, über seine 505 Tage währende Gefangenschaft im Gazastreifen berichtet. Der Israeli, der gemeinsam mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern am 7. Oktober 2023 aus dem Kibbuz Be’eri entführt worden war, beschreibt ein System von psychischer und physischer Folter, das gezielt auf Demütigung und Entmenschlichung abzielte.
»Sie hungerten uns aus«, so Schoam. Während die Geiseln mit winzigen Portionen Reis oder trockenem Brot abgespeist wurden, prahlten die Hamas-Kämpfer mit üppigen Mahlzeiten, erzählt er. »Sie ließen die Tür zu unserem Verlies offen, damit wir das Essen riechen und ihr Schmatzen hören konnten.«
Seine Schilderungen aus einem der Hamas-Tunnel unter Gaza sind eindrücklich: Ein zwölf Meter langer, kaum zwei Meter hoher Gang aus Beton, feucht, stickig, ohne Tageslicht. »Die Kleidung klebte an der Haut, der Schmutz war überall«, so Schoam. Über acht Monate lang war er mit drei weiteren Geiseln dort eingesperrt – unter anderem mit Evjatar David, einem heute 24-jährigen Israeli, der kürzlich in einem Hamas-Propagandavideo zu sehen war: abgemagert, gequält, gezwungen, sein eigenes Grab zu schaufeln.
Zermürbung als Taktik
»Die Hamas quälte uns psychisch jeden einzelnen Tag«, sagt Schoam im Gespräch mit der »Zeit«. Sie hätten ihnen Videos des Massakers vom 7. Oktober vorgespielt, dazu Schüsse und Musik. Immer wieder seien die Geiseln in Todesangst versetzt worden. »Sie taten oft so, als stünde unsere Hinrichtung bevor. Sie fragten sogar, wer von uns sterben solle.«
Die Bewacher hätten ihnen systematisch Informationen vorenthalten, ihnen Datum und Uhrzeit verschwiegen, das Licht ausgeschaltet und dann Schlaf verboten. »Sie beobachteten uns mit Kameras, leuchteten uns mit Taschenlampen in die Augen oder leiteten Qualm in den Tunnel, bis wir fast erstickten.«
Besonders erschütternd: Die Hamas kontrollierte nicht nur den Körper, sondern auch den Geist der Geiseln. »Sie waren unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie behaupteten, unsere Familien seien durch israelische Raketen getötet worden oder die Regierung habe uns längst aufgegeben.« Die psychologische Kriegsführung war laut Schoam ebenso brutal wie effektiv.
Narrative der Hamas
Trotzdem betont er: »Ich glaube nicht, dass uns unsere Regierung vergessen hat. Diese Narrative stammen von der Hamas – und sie gewinnen, wenn die Welt ihnen glaubt.«
Auf die Frage, ob die Hamas Hilfsgüter abzweige, widerspricht Schoam allen Zweifeln: »Ich sah persönlich humanitäre Hilfe aus der Türkei und Ägypten. Trotzdem behaupteten die Hamas-Kämpfer, es gebe kein Essen. Gleichzeitig kochten sie reichlich. Die Vorräte wurden gehortet. Die Hamas hungert auch Palästinenser aus, wenn es ihnen nützt.«
Besonders schwer wiegt für Schoam das Schicksal seiner Kinder: »Sie waren acht und drei Jahre alt, als wir entführt wurden. Als sie freikamen, wussten sie nicht, ob ich lebe. Und ich wusste es von ihnen nicht.« Noch heute, erzählt er, habe seine Tochter Angst, dass »die Bösen zurückkommen«. Sein Sohn könne über das Erlebte nicht sprechen.
Klare Worte zur internationalen Kritik
Trotz dieser Belastung sieht sich Schoam in der Pflicht, für die verbliebenen Geiseln zu sprechen – für seine »neue Familie«. Allen voran Evjatar David. »Ich bin wieder innerlich bei ihm im Tunnel. Ich habe große Angst, dass er es nicht schafft.«
Die weltweit geäußerte Kritik an Israels Kriegsführung im Gazastreifen weist Schoam deutlich zurück: »Israel wurde angegriffen, niemand hat uns wirklich geholfen. Jetzt sollen die Palästinenser einen Staat bekommen? Wenn die Hamas weiter regiert, wird das ein Terrorstaat.«
Auch an Europa richtet er einen Appell: »Ich hoffe, Deutschland und andere setzen Katar unter Druck, entwaffnen die Hamas, helfen Gaza und Israel. Viele denken, sie helfen den Palästinensern. In Wahrheit helfen sie der Hamas.«
Keine Hoffnung auf militärische Befreiung
Nach der spektakulären Befreiung von vier Geiseln durch die israelische Armee im Juni 2024, so Schoam, habe die Hamas die verbleibenden Geiseln in verminte Tunnel gebracht. Eine militärische Rettung sei seither kaum möglich. »Die Tunnel sind verdrahtet, jede Bewegung kann tödlich enden.«
Schoam selbst gibt sich kämpferisch, auch wenn das Trauma bleibt: »Viele denken, wenn man frei ist, ist alles vorbei. Aber dann fängt es erst an.« Er mache Therapie, aber vor allem stärke ihn der Gedanke an seine Familie und an seine Verantwortung gegenüber jenen, die noch in den Tunneln gefangen sind.
Zum Schluss sagt er: »Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges. Aber ich glaube an Menschlichkeit. Und an Gott.« ja