Terror

Ein Land unter Beschuss

Es hört sich nicht gut an: Schon nach dem ersten Tag der Gegenoffensive zeige sich deutlich, dass die Terroristen im Gazastreifen von der letzten Auseinandersetzung im November 2012 gelernt haben, warnte der Militärexperte Ben Yischai am Mittwoch in der Zeitung Yedioth Ahronoth. So feuerten sie inzwischen Dutzende Raketen auf einmal – es ist ein offenes Geheimnis, dass die Abwehrkapazität des Verteidigungssystems »Iron Dome« begrenzt ist. Außerdem haben ihre Raketen inzwischen größere Reichweiten: Der Beweis war am Dienstagabend in Hadera nördlich von Tel Aviv zu sehen. Dort – 117 Kilometer von Gaza entfernt – wurde Alarm ausgelöst.

Waren vor drei Wochen vor allem die Menschen im Süden des Landes den Attacken aus Gaza ausgesetzt, sind nun auch Städte bis weit ins Landesinnere betroffen. Mehrmals gab es Raketenalarm in Yavne, Rechovot, Rischon LeZion und Nes Ziona. Am Dienstagabend heulten auch in Tel Aviv und Jerusalem die Alarmsirenen. Erstmals seit dem Wiederaufflammen des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen wurden Geschosse auf die Metropolen abgefeuert. Menschen suchten unter anderem in Treppenhäusern Unterschlupf oder versteckten sich hinter Autos. Viele Raketen wurden durch das Abwehrsystem »Iron Dome« abgefangen. Ein Geschoss ist in Jerusalem eingeschlagen.

Gelassenheit »Alles geht seinen Gang in Tel Aviv«, sagt Avi Hadar, ein Pilot für private Unternehmen. Es habe drei-, viermal Alarm gegeben, aber eigentlich kümmere sich niemand groß darum. »Die Leute gehen nicht einmal in die Schutzräume.« Das ist zumindest sein Eindruck. Der 45-Jährige ist auch kein bisschen besorgt über die Raketen der Hamas. »Selbst wenn sie treffen, können sie nicht viel ausrichten. Außerdem haben wir ja das Abwehrsystem.«

Doch nicht alle reagieren so gelassen. Viele Menschen, die in Bars und Restaurants saßen, beeilten sich, in geschützte Zonen zu gelangen. Passanten auf der Straße suchten Schutz unter den Arkaden von Hochhäusern. Nany Drori etwa ist immer noch schockiert. Als die Kunststudentin am Dienstag gerade eine Vorlesung hatte, wurde Alarm ausgelöst. »Wir sind in den Schutzraum«, erzählt sie. Nach wenigen Minuten gingen sie wieder hinaus, »und als ich auf die Straße ging, explodierte die Rakete über mir«. »Iron Dome« hatte sie zerstört. Die Studentin findet die derzeitige Lage furchtbar, obwohl auch sie – wie viele Israelis – betont, sie sei mit Bedrohung aufgewachsen. »Ich wünsche mir, wir kämen raus aus diesem Teufelskreis.«

Stress Ausländer empfinden die derzeitige Lage schon ein wenig anders. Eine junge Wissenschaftlerin, die mit einem Israeli verheiratet ist, sagt, sie sei bedrückt. Als in Tel Aviv die Sirene heulte, sei sie gerade mit Freunden am Strand gewesen: »Wir haben dann gesehen, wie die Rakete über dem Meer von Iron Dome abgeschossen wurde. Weil das der erste Alarm war und wir im Freien waren, wusste eigentlich niemand so richtig, was wir tun sollten. Nach dem Alarm sind dann alle geknickt nach Hause gegangen.« Sie habe während des Alarms ein beklemmendes Gefühl gehabt, aber richtige Angst nicht. »Die Wahrscheinlichkeit, von so einer Rakete getroffen zu werden, ist eben doch sehr klein«, meint sie.

»Ich war gerade im Taxi, als der Alarm losging«, sagt der 30-jährige Ziv Zwaghaft. Er sah, wie alle Autos und Busse stoppten und die Leute versuchten, sich unter Brücken in Schutz zu bringen. Er und sein Fahrer blieben im Taxi. »Er war religiös, und ich habe zu ihm gesagt: Bete für uns beide«, lacht er. Er habe dann gesehen, wie Iron Dome die Raketen in der Luft zerstört habe. »Das hat mich stolz gemacht.« Es sei einfach ein hervorragendes System. Er habe überhaupt keine Angst, sei höchstens ein wenig gestresst. Klar sei, dass die Menschen in Tel Aviv die Umstände nicht so gewohnt seien wie die Israelis im Süden.

Auch seine Freunde seien gelassen. »Wir haben das Fußballspiel angeschaut. Niemand schießt während eines Fußballspiels.« Auch am Mittwochabend wollte er in eine Bar gehen, um sich das Halbfinale anzuschauen.

Dschihad Für die Raketen auf Tel Aviv haben inzwischen die Al-Quds-Brigaden im Gazastreifen, der bewaffnete Arm der Terrororganisation Islamischer Dschihad, die Verantwortung übernommen. Der Beschuss des Südens ging auch nach dem »Code Red«-Alarm in Tel Aviv und Jerusalem weiter. So wurde zum zweiten Mal im Laufe des Tages eine Rakete auf Aschkelon gerichtet, aber von »Iron Dome« abgefangen. Aus Aschdod wurde gemeldet, dass eine Rakete im Stadtgebiet eingeschlagen ist, aber keinen größeren Schaden angerichtet hat. Dort und in der Region Shaar Hanegev, die sich zwischen Aschkelon und Beer Sheva erstreckt, war weiterhin laufend Raketenalarm zu hören.

Nach dem wochenlangen Raketenbeschuss vor allem südisraelischer Städte durch die im Gazastreifen regierende Hamas begann Israel am Montag eine militärische Offensive unter dem Namen »Operation Protective Edge«. Allein am Montagabend waren etwa 80 Raketen auf Städte im Süden Israels abgefeuert worden, unter anderem Sderot, Aschkelon, Ofakim und Beer Sheva. Der Beschuss von Tel Aviv und Jerusalem stellt nun eine weitere Eskalationsstufe dar.

Insgesamt seien in den vergangenen Tagen mehr als 200 Raketen abgefeuert worden, berichten israelische Medien – die Zahlen variieren –, »Iron Dome« fing rund 40 davon ab. Die Heimatfront hat angeordnet, die Schutzräume in Tel Aviv, in der Scharon-Ebene, Beit Schemesch, Jerusalem und in den Kommunen des Shelfa-Gebietes zu öffnen. Im Landesinneren haben die Menschen anderthalb Minuten Zeit, um in die Schutzräume zu gelangen, im Süden nur 15 Sekunden. Innerhalb eines Radius von 40 Kilometern um Gaza sollten die Menschen möglichst ständig in der Nähe von geschützten Räumen bleiben, sagte Brigadegeneral Moti Almoz in der Nacht zum Mittwoch.

Des Weiteren wurde der Zugverkehr zwischen Aschkelon und Sderot eingestellt. Laut einem Fernsehbericht versuchten Terroristen, den Verkehrsflughafen Dov im Norden von Tel Aviv vom Meer aus anzugreifen. Der Flughafen in Eilat ist ebenfalls geschlossen, und am Ben-Gurion-Airport könnten sich aufgrund der Situation weiterhin die Flugzeiten ändern, hieß es.

Fussball Nicht nur wegen der Sirenen spüren die Israelis, wie die blutige Auseinandersetzung sich langsam aber sicher auf ihren Alltag auswirkt. So wurden in Jerusalem am Dienstagabend 6000 Leute evakuiert, die sich im »Sultan’s Pool«, einer Ausgrabungsstätte im Ostteil Jerusalems, einen Film anschauten. In der Stadt findet derzeit der Kultursommer statt.

In Holon bei Tel Aviv wurde durch einen Alarm eine Hochzeitsfeier jäh beendet. Und viele Bars in den Städten, die das Fußballspiel Brasilien gegen Deutschland zeigten, blieben leer.

Dagegen fand ein Konzert in Tel Aviv nach Plan statt, obwohl währenddessen die Sirene heulte. Sie war schlichtweg nicht zu hören, was bei manchen Besuchern, die später davon erfuhren, Ärger auslöste. Das Baden und der Aufenthalt am Strand bei Palmachim südlich von Tel Aviv wurde ebenfalls vorsichtshalber verboten. Sämtliche Sommercamps, Kindergärten und Schulen in dem vorgegebenen Radius bleiben geschlossen.

Schäden Die Sachschäden halten sich bislang in Grenzen: Bei Jerusalem wurde ein Haus direkt getroffen, aber niemand wurde verletzt. In Tel Aviv fiel in einem Haus der Strom aus, als eine Rakete relativ nah einschlug. Im Süden, der immer noch am stärksten unter Beschuss ist, lösten die Raketen ein Feuer in einem leeren Haus in der Region um Aschkelon aus. Ein Mann verletzte sich, als er zum Schutzraum rannte, ein anderer wurde durch Splitter leicht verwundet. Magen David Adom behandelte diese sowie sieben weitere Menschen am Dienstag, berichtete Yedioth Ahronoth. Sie alle litten unter Angstzuständen.

Innerhalb der ersten 24 Stunden der Militäroffensive hat die israelische Armee nach eigenen Angaben mehr als 270 Ziele in Gaza angegriffen. Seit Beginn der Operation in der Nacht zuvor hätten Luftwaffe und Marine 435 Ziele angegriffen. Die meisten Angriffe seien vom Meer aus erfolgt. Entlang der Grenze wurden Artillerieeinheiten zusammengezogen. Das Sicherheitskabinett beschloss am Dienstagnachmittag, 40.000 Reservisten zu mobilisieren. Die Armee hat die Stützpunkte der Hamas im Visier, so wie etwa ein Haus eines führenden Hamas-Mitglieds in Rafah. Insgesamt seien bislang 50 solcher Stützpunkte attackiert worden.

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