Abstimmung am Mittwoch

Wird die Knesset aufgelöst?

Plakat gegen die Wehrpflicht in einer ultraorthodoxen Gegend Jerusalems Foto: Flash 90

Der Mittwoch könnte zum Showdown für die Koalition in Jerusalem werden. An diesem Tag sollen die Parlamentarier über die Auflösung der Knesset abstimmen. Grund ist ein Gesetz zur nationalen Wehrpflicht. Die haredischen Parteien verlangen eine generelle Befreiung vom Wehrdienst für ihre jungen Männer. Vor dem Hintergrund des andauernden Krieges allerdings sprechen sich immer mehr Mitglieder der Koalition dagegen aus. Auch in der Bevölkerung brodelt es.

Jahrzehntelang gingen die jungen Männer und Frauen in Israel zur Armee, während ihre strenggläubigen ultraorthodoxen Altersgenossen dies verweigerten. »Auch ich machte meinen Armeedienst, während andere dies nicht taten«, sagt der Journalist und Politikanalyst Aviv Bushinsky. »Wir dachten nicht weiter darüber nach, sondern sagten uns: ›So ist das Leben hier eben‹«. Nach dem Massaker der Hamas und dem damit beginnenden Krieg jedoch sei alles anders geworden.

»Reservisten dienen Hunderte von Tagen im Kriegsgebiet, statt bei ihren Familien zu sein, zur Arbeit zu gehen oder in den Urlaub zu fahren«, so Bushinsky. »Immer mehr Israelis haben die Nase voll von dieser Ungleichbehandlung, zumal die Haredim dieselben Rechte und Vergünstigungen vom Staat erhalten wie alle anderen, ohne etwas dafür zu tun.«

Haredim meinen, sie seien »in Gefahr«

Die Anführer der Ultraorthodoxen sehen das grundlegend anders. Rabbi Dov Landau, das 95-jährige Oberhaupt der litauischen Fraktion in der Knesset, ist überzeugt: »Wir sind physisch und spirituell in größer Gefahr, wenn wir in die Armee gehen.« Auch der Staat Israel werde dann nicht weiter existieren, »weil wir ihn nicht mehr durch unsere Gebete schützen können«.

Für ihn und die Mehrheit der haredischen Anführer gibt es nur eine Lösung: dass sich kein einziger streng religiöser junger Mann die olivgrüne Uniform überziehen muss. Der Oberste Gerichtshof jedoch entschieden, dass das dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche und setzte der Koalition eine Frist, um eine Lösung zu finden. Sollte dies nicht geschehen, werden die Einberufungsbescheide verschickt.

Sie sind längst in die Briefkästen Tausender junger Haredim geflattert, die diese jedoch größtenteils ignorieren. Laut Gerichtshof Grund für Sanktionen, beispielsweise das Streichen der Kindergartenzuschüsse für Verweigerer. Da dies über den ultraorthodoxen Gemeinden und ihren Vertretern in der Knesset wie ein Damoklesschwert hängt, drohen sie selbst mit einer Bestrafung – der Auflösung der Knesset.

Eliyahu Berkovits: »Dieser Druck ist neu für die religiösen Oberhäupter. Sie haben wirklich Angst vor dem, was geschehen mag.«

Dies muss durch ein Gesetz geschehen. Solle der Gesetzesvorschlag in der ersten Lesung angenommen, wird er im Gesetzgebungskomitee genauer definiert und anschließend durch eine zweite und dritte Lesung gebracht. Wird er auch dabei bestätigt, muss die Knesset aufgelöst und ein Datum für Neuwahlen innerhalb der nächsten fünf Monate festgelegt werden.

Eliyahu Berkovits war einst selbst Student einer Jeschiwa. Heute ist er Forscher am Israel Democracy Institute für ultraorthodoxe Angelegenheiten. Er weiß, dass sich die haredischen Gemeinden seit dem 7. Oktober auf unbekanntem Terrain befinden, da der bislang geltende Status quo bedroht ist. »Dieser Druck ist neu für die religiösen Oberhäupter. Sie haben wirklich Angst vor dem, was geschehen mag.« Außerdem gebe es mittlerweile sehr viele Anführer für jede Gruppe oder Partei, während es vor einigen Jahren immer nur eine Einzelspitze gab. »Und mit den vielen Leuten kommen auch viele Meinungen. Es herrscht große Verwirrung.«

Die derzeitige Koalition verfügt über 68 Sitze. Daher werde der Verlust der sieben Abgeordneten der haredischen Partei Vereintes Tora-Judentum nicht reichen, um die Regierung zu Fall zu bringen. Allerdings kündigte die zweite strengreligiöse Partei an, mitzuziehen: die sefardische Schas. Auch sie verlangt eine Ausnahme von der Wehrpflicht für Ultraorthodoxe.

Berkovits ist sicher, dass Schas das Zünglein an der Waage bei diesem politischen Geschacher ist. »Denn deren Wähler sind der Auffassung, dass junge Männer, die nicht an einer Jeschiwa studieren, definitiv Armeedienst leisten sollten.« Aus diesem Grund, meint er, wäre es für die Partei momentan desaströs, Wahlen zuzulassen. »Vorsitzender Arie Deri wird alles tun, um zu verhindern, dass dies zu diesem Zeitpunkt geschieht.« Die nächsten regulären Wahlen sind für Oktober 2026 vorgesehen.

Keine Indikation auf dem Währungs- und Börsenmarkt

»Es ist die erste echte Krise für die Regierung in Jerusalem«, so Bushinsky. Gleichwohl gebe es keine Indikation, zum Beispiel auf dem Währungs- oder Aktienmarkt, dass der Fall der israelischen Regierung tatsächlich unmittelbar bevorstehe. »Ich bin mir sicher, dass der Premierminister es noch irgendwie schafft, Wahlen hinauszuziehen. »Schließlich ist Netanjahu der Meister im Verzögern.«

Dennoch ist er sicher, dass allein der Wille seiner Koalitionspartner, die Knesset aufzulösen, ein großer Schlag für den Regierungschef ist. »Es wird als Mangel an Führungskraft angesehen, wenn er seine eigene Koalition nicht unter Kontrolle hat«, betont er. Und dazu: »Mit dem Gespräch über Wahlen geht das Land in einen anderen Modus über. Und das will Netanjahu ganz und gar nicht.«

»Denn wenn er jetzt in den Wahlkampf ziehen müsste, wäre das hauptsächliche Thema der Armeedienst für Ultraorthodoxe – eine Kampagne, wie sie unglücklicher nicht sein könnte. Denn sämtliche Likud-Wähler sind überzeugt, die Haredim gehören in die Armee wie alle anderen auch. So würde Netanjahu diese Wahlen in jedem Fall verlieren.« Daher wende er seine »üblichen Verzögerungstaktiken« an, meint er, um die Koalition durch die nächsten sechs Wochen zu retten. Anschließend geht die Knesset in die Sommerpause, der die Hohen Feiertage folgen.

»Und die Zeit, die er bis zum Oktober hätte, wird Netanjahu sicherlich nutzen, um irgendeinen Erfolg zu erzielen, sei es in Sachen Iran, die Zerschlagung der Hamas oder die Befreiung aller Geiseln«, ist der Politikkenner sicher. »Damit will er dann in die Wahlen ziehen – und sie gewinnen.«

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