Justizreform

Bluff von Bibi?

Polizisten und Demonstranten am Montag in Tel Aviv: Die Proteste gegen die Reformpläne der Regierung halten an. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Nach drei Monaten der Massenproteste im ganzen Land und einem Generalstreik am Montag erklärte Premierminister Benjamin Netanjahu am Abend in einer Rede, dass er die geplante Reform der Justiz zunächst ruhen lassen werde. Er tue dies aus »nationaler Verantwortung«.

Die Verweigerungen von Reservisten in der Armee würden »uns auseinanderreißen«, sagte er in der kurzen Fernsehansprache. Reservisten in der IDF sind wesentlicher Bestandteil von Israels Sicherheitskonzept in sämtlichen Einheiten, von Piloten über Mediziner bis zu Cyberspezialisten, und sie spiegeln die aktive Beteiligung der Zivilbevölkerung an der Verteidigung des Landes wider.

kollisionskurs »Es darf keinen Bürgerkrieg geben. Die israelische Gesellschaft befindet sich auf einem gefährlichen Kollisionskurs. Wir sind mitten in einer Krise, die grundlegende Einheit ist gefährdet. Dies fordert von uns allen verantwortungsvolles Handeln.« Netanjahu verglich die Situation in Israel mit der Geschichte des Urteils von König Salomo: »Beide Seiten sagen, dass sie das Baby lieben, dass sie unser Land lieben.«

Der Ministerpräsident betonte, dass es »notwendige Änderungen im Justizsystem« geben müsse, doch er werde eine Auszeit für den Dialog gewähren.

Der Ministerpräsident betonte, dass es »notwendige Änderungen im Justizsystem« geben müsse, doch er werde eine Auszeit für den Dialog gewähren. »Ich werde einem echten Dialog eine echte Chance geben«, damit ein breiter Konsens erzielt werden könne. Wie lange er den Gesetzgebungsprozess anhalten wolle, gab Netanjahu nicht bekannt. Doch israelische Medien berichteten, dass der Premier voraussichtlich bis Ende April auf die Bremse treten wolle und die Verfahren mit dem Beginn der Sommerperiode der Knesset ab Anfang Mai wiederaufnehmen werde.

Generalstreik Während Netanjahu sprach, demonstrierten etwa 100.000 Israelis vor der Knesset gegen die Reform, und einige Zehntausend gingen zum ersten Mal auf die Straßen, um ihre Zustimmung für das Regierungsvorhaben zu bekunden. Rechtsgerichtete Politiker hatten die Menschen aufgerufen, zu Demonstrationen für die Regierungspolitik nach Jerusalem zu kommen. Neben den Protesten hatte es am Montag einen Generalstreik in Israel gegeben, unter anderem war der Ben-Gurion-Flughafen geschlossen, sämtliche Flüge waren gestrichen. Auch Krankenhäuser, Universitäten und Kommunen beteiligten sich.

Benjamin Netanjahu lobte die rechtsgerichteten Demonstranten, die spontan gekommen waren, und rief dann alle Protestierenden auf, »verantwortungsvoll und ohne Gewalt« ihre Stimme zu erheben. »Eine Sache bin ich nicht bereit zu akzeptieren: eine Minderheit von Extremisten, die bereit ist, unser Land in Stücke zu reißen und uns in den Bürgerkrieg zu führen«. Wer diese »Extremisten« seien, ließ Netanjahu offen.

Die Fraktion Religiöser Zionismus hatte ihn zuvor gedrängt, sich nicht dem Druck von »Anarchisten« zu beugen und den Gesetzgebungsprozess auf jeden Fall fortzusetzen, wurde berichtet. Auch Justizminister Yariv Levin (Likud), einer der Hardliner in Sachen Justizreform, hatte mit Rücktritt gedroht, falls die Gesetzgebung gestoppt würde. Am frühen Montagabend hieß es dann jedoch, dass er »jede Entscheidung« des Premierministers respektieren werde.

einigung Netanjahu schloss damit, er habe die Worte von Benny Gantz vernommen und wolle seine Hand ausstrecken, um einen Dialog zu beginnen. Gantz, ehemaliger Verteidigungsminister, hatte wiederholt zu einer Diskussion aufgerufen, um eine Einigung herbeizuführen, und sich in den vergangenen Tagen mit einigen Vertretern des Likud und charedischer Parteien getroffen.

Im Anschluss an die Rede meldete sich Gantz vom Bündnis Nationale Einheit zu Wort. Er sagte, es müsse aufhören, dass das Volk Israels auseinandergetrieben und gegeneinander aufgehetzt werde. »Wir lassen das nicht zu.« Die Politik – Regierung wie Opposition – habe eine Verantwortung und niemand das Recht, diese zu ignorieren. Leider gebe es auch in diesen Stunden zynische und extremistische Politiker.

Er forderte, dass Verteidigungsminister Yoav Gallant, den Netanjahu einen Tag zuvor entlassen hatte, wieder in sein Amt zurückkehren könne. »Dies ist nicht die Zeit, einen neuen Verteidigungsminister zu suchen.« Netanjahu hatte sich in seiner Rede dazu nicht geäußert. Technisch gesehen ist Gallant immer noch auf seinem Posten, da er kein offizielles Entlassungsschreiben erhalten hat. Gallant begrüßte die Entscheidung, Gespräche mit der Opposition zu führen, hieß es in einer kurzen Erklärung seines Büros.

bürgerkrieg Auch Gantz machte unmissverständlich klar, dass es keinen Bürgerkrieg unter Israelis geben dürfe. Er dankte den Menschen, die gewaltlos für den Erhalt der Demokratie demonstrierten, und wandte sich dann an alle Israelis: »Ihr seid meine Brüder, ich will euch alle sehen und hören.« Daher sei er bereit, in die ausgestreckte Hand von Premier Netanjahu einzuschlagen. »Denn ich will, dass wir in einem jüdischen, demokratischen und liberalen Staat Israel leben.« Sein Herz sei offen für den Dialog.

Zuvor hatten einige national-religiöse Rabbiner in einem offenen Brief bekundet, dass »der Staat Israel aufgrund der anhaltenden Krise politischen, sicherheitsbezogenen und wirtschaftlichen Schaden erlitten hat«. Der Riss in der Nation werde immer tiefer.

Zu den Unterzeichnern gehörten Yaakov Ariel, einstiger Oberrabbiner von Ramat Gan, und Jerusalems Oberrabbiner Aryeh Stern. Ariel ist einer der wichtigsten Anführer im national-religiösen Sektor und ein Unterstützer des ultranationalistischen Finanzministers Bezalel Smotrich.

zusage Auch Oppositionsführer Yair Lapid (Jesch Atid) äußerte sich und hob hervor, er habe die Zusage zu den Gesprächen mit der Regierung mit Gantz koordiniert. Er bekundete allerdings auch Zweifel an der Aufrichtigkeit der Ansprache Netanjahus, denn »bei diesen Gesprächspartnern« müsse man »vorsichtig« sein.

»Wir haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht, und deshalb werden wir zuerst sicherstellen, dass hier keine Tricks oder Bluffs stattfinden. Wir haben gestern mit Besorgnis die Berichte gehört, dass Netanjahu den Menschen in seinem Umfeld sagte, er werde nicht wirklich aufhören, sondern nur versuchen, die Situation zu beruhigen«, führte Lapid aus. »Doch wenn er irgendetwas versucht, wird er Hunderttausende patriotische Israelis finden, die sich dem Kampf für unsere Demokratie verschrieben haben und ihm gegenüberstehen.«

Sollte die Gesetzgebung allerdings tatsächlich gestoppt werden, »wirklich und vollständig, dann sind wir bereit, einen echten Dialog zu beginnen«. Es brauche eine festgeschriebene Konstitution auf Basis der Unabhängigkeitserklärung. »Dann können wir als Volk stärker aus dieser Kluft hervorgehen.«

Entscheidung Präsident Isaac Herzog kommentierte, dass diese Entscheidung »das Richtige« sei. Vertreter der Koalitions- und Oppositionsparteien kamen am Dienstagabend bereits in der Residenz des Präsidenten in Jerusalem zusammen, um die Verhandlungen aufzunehmen. Dabei ging es nicht um den Inhalt einer möglichen Reform, sondern um den Verhandlungsmechanismus.

Premier Netanjahu erklärt, er werde die geplante Reform ruhen lassen – bis auf Weiteres.

Es waren die ersten persönlichen Gespräche zwischen den beiden Seiten nach drei turbulenten Monaten. In einer Erklärung des Präsidialamtes nach dem 90-minütigen Treffen hieß es, die Gespräche seien in einer »positiven Atmosphäre« verlaufen, weitere Treffen würden folgen.

Das überparteiliche Israel Democracy Institute forderte am Dienstag einen »konstitutionellen Rahmen, basierend auf einem breiten Konsens«, der drei Schlüsselprinzipien enthalten müsse. Erstens: Verankerung der Grundrechte und Bekenntnis zur Gleichberechtigung im Sinne der Unabhängigkeitserklärung. Zweitens: Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz und des Berufscharakters der Richterbestellung. Und drittens: Kodifizierung und Verankerung vereinbarter »Spielregeln«, um zu verhindern, dass eine vorübergehende politische Mehrheit den Verfassungsrahmen Israels ändert oder demokratische Werte gefährdet.

Während man sich Pessach, dem Fest der Freiheit, nähere, sei es jetzt an der Zeit, so das Democracy Institute, »die Freiheiten aller Israelis in einem vereinbarten Verfassungsrahmen zu verankern«.

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