Nachruf

Beste Freundin

Blieb bis ins hohe Alter eine wichtige Zeitzeugin: Hannah Pick-Goslar Foto: picture alliance / Eventpress Hoensch

Nachruf

Beste Freundin

In Jerusalem starb die Zeitzeugin Hannah Pick-Goslar. Sie kannte Anne Frank seit Kindertagen

von Helmut Kuhn  03.11.2022 08:04 Uhr

»Zu unserer großen Bestürzung ist Hannah Pick-Goslar im Alter von 93 Jahren verstorben. Hannah oder Hanneli, wie Anne sie in ihrem Tagebuch nannte, war eine von Anne Franks besten Freundinnen«, heißt es dieser Tage auf der Website des Anne Frank Hauses in Amsterdam. »Die beiden Mädchen kannten sich schon seit dem Kindergarten. Am 14. Juni 1942 schrieb Anne ins Tagebuch: ›Hanneli und Sanne waren früher meine beiden besten Freundinnen, und wer uns zusammen sah, sagte immer: Da laufen Anne, Hanne und Sanne.‹«

»Bis heute erinnere ich mich an unsere erste Begegnung im Kindergarten. Ich kam zur Tür herein und sah ihren Rücken, sie spielte mit kleinen Glocken. Sie drehte sich um, sah mich, und wir liefen einander in die Arme. Seither waren wir Freundinnen«, sagte Hannah Pick-Goslar später in einem Interview.

FAMILIE Hannah Goslar wurde am 12. November 1928 in Berlin-Tiergarten geboren. Ihre Eltern waren religiöse Juden. Hannahs Vater Hans Goslar war Leiter der Pressestelle im Preußischen Staatsministerium. 1933 emigrierte die Familie zunächst nach London und lebte dann in Amsterdam in der Nachbarschaft der Familie Frank am Merwedeplein. Hannah Goslar und Anne Frank besuchten gemeinsam den Kindergarten, die 6. Montessori-Schule und später das Jüdische Lyzeum. »Sie wurden dicke Freundinnen und spielten auch oft zu Hause miteinander«, heißt es weiter.

Anne Frank und ihre Familie tauchten 1942 unter und versteckten sich in einem Amsterdamer Hinterhaus. Hannah Goslar wurde im Juni 1943 zusammen mit ihrem Vater, ihren Großeltern und ihrer kleinen Schwester Gabi in das Lager Westerbork und von dort aus im Februar 1944 in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Dort begegnete sie im Februar 1945 noch einmal Anne Frank – kurz vor deren Tod.

»Sie drehte sich um, sah mich, und wir liefen einander in die Arme. Wir wurden Freundinnen.«

1997 erschien das Buch Erinnerungen an Anne Frank von Alison Leslie Gold, in dem Hannah Pick-Goslar von ihrer Freundin erzählt, und 2021 der Film Meine beste Freundin Anne Frank von Ben Sombogaart. Der Film zeichnet Hannahs und Annes Freundschaft während des Zweiten Weltkriegs nach.

1994 sprach Hannah Pick-Goslar in dem Dokumentarfilm Anne Frank Remembered von John Blair über diese letzte Begegnung mit ihrer Freundin in Bergen-Belsen: »Eines Tages sagte mir eine Freundin: ›Weißt du, da, zwischen all diesen Frauen, steht deine Freundin Anne Frank.‹ Also musste ich zu diesem Stacheldraht gehen. Das war nicht erlaubt. Der Deutsche im Wachturm beobachtete uns, er hätte uns erschossen, wenn er uns erwischt hätte. In dem Stacheldraht steckte Stroh, wir konnten die andere Seite nicht sehen. Als es dunkel wurde, ging ich zu dem Stacheldraht und rief: ›Hallo, hallo!‹ Und wer antwortete mir? Unsere ehemalige Nachbarin, Misses van Pels. ›Du willst Anne?‹ ›Ja! Ja!‹ Sie rief sie für mich. Ich stand in der Kälte und wartete. Dann rief mich Anne. Das war schrecklich. Zuerst mussten wir weinen. Dann sagte sie, sie habe niemanden mehr. Sie sagte: ›Meine Mutter ist tot.‹ Das tat mir so leid für sie. Es stimmte: Zu diesem Zeitpunkt war ihre Mutter tot, aber sie konnte das nicht wissen. Es stellte sich erst später heraus, dass sie Anfang Januar an Erschöpfung gestorben war. Und wenn sie nur gewusst hätte, dass ihr Vater noch lebte. Sie war ohne Hoffnung.«

DOKUMENT Anne Frank starb 1945 mit 15 Jahren in Bergen-Belsen. Ihr Tagebuch, in dem sie über ihr Leben im Versteck in Amsterdam bis 1944 berichtet, wurde in mehr als 70 Sprachen übersetzt und stellt eines der bedeutendsten Dokumente der Verfolgung dar und eine äußerst bewegende Biografie.

Hannah und ihre Schwester Gabi überlebten als Einzige ihrer Familie. Hannah emigrierte 1947 in das damalige Palästina und wurde dort Krankenschwester. Sie heiratete Walter Pick, das Paar bekam drei Kinder, später folgten elf Enkelkinder und 31 Urenkel. Sie sagte darüber: »Das ist meine Antwort auf Hitler.«

Hannah Pick-Goslars Antwort auf Hitler lautete: drei Kinder, elf Enkel und 31 Urenkel.

Bis ins hohe Alter habe Hannah Pick-Goslar von ihren Erinnerungen an die Freundschaft mit Anne Frank und ihre eigene Verfolgung durch die Nazis berichtet, heißt es weiter auf der Website des Anne Frank Hauses: »Alle sollten wissen, was mit ihr und ihrer Freundin Anne von dem Moment an geschah, an dem Annes Tagebuch abbricht, so furchtbar diese Geschichte auch ist.«

zeitzeugin Hannah Pick-Goslar unterstützte die Initiative »Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus«, pflanzte einen Anne-Frank-Erinnerungsbaum in Uedelhoven, zusammen mit ihrer Enkelin Tamar Meir. Sie war zudem Zeitzeugin im Zeitzeugen-Verein. Immer wieder sprach sie vor großem Publikum.

Im Juni 2009 reiste sie nach Deutschland zu Gedenkfeiern zu Anne Franks 80. Geburtstag in Berlin und Frankfurt am Main sowie zu einem Zeitzeugengespräch nach Wiesbaden. Ebenso sprach sie auf Einladung der Anne-Frank-Schule in Eschwege. »Ich will, dass alle hören und dass alle zuhören«, sagte sie damals der Jüdischen Allgemeinen. Dafür habe sie, die fromme Jüdin, viele Strapazen auf sich genommen.

In Deutschland leben würde sie aber auf keinen Fall, erklärte sie. Und dass Juden in diesem Land blieben, das könne sie nicht verstehen. »Sie sollen alle nach Israel kommen.« Als sich in Wiesbaden jemand bei ihr »für den schönen Vortrag« bedankte, verzog Hannah Pick-Goslar das Gesicht. Sie war alles andere als erfreut über dieses Kompliment. »Schön«, sagte sie, »war nichts an dem, was ich berichte.«

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  02.12.2025 Aktualisiert

Netanjahu fordert »entmilitarisierte Pufferzone« in Syrien

 02.12.2025

Israel

Israel erhält »Befunde« aus Gazastreifen

Israel wartet auf die Übergabe der beiden letzten getöteten Geiseln durch die Hamas. Nun ist die Rede von »Befunden«, die übermittelt worden seien. Der genaue Hintergrund ist unklar

 02.12.2025

Ehemalige Geiseln

»In Gaza war ich wie ein toter Mensch«

Der junge Israeli Alon Ohel erlebte in den Tunneln der Hamas unvorstellbare Qualen und sexuelle Gewalt. Jetzt spricht er zum ersten Mal darüber

von Sabine Brandes  02.12.2025

Berlin

Israel-Flagge vor Rotem Rathaus eingeholt

Nach mehr als zwei Jahren wurde die Fahne am Dienstag vom Mast geholt. Die Hintergründe

 02.12.2025

Westjordanland

Messer- und Autoangriff auf israelische Soldaten

Innerhalb weniger Stunden kam es zu gleich zwei Anschlägen auf Vertreter des israelischen Militärs

 02.12.2025

Tel Aviv

Was passiert nach Netanjahus Begnadigungsantrag?

Versuche, die Prozesse durch eine Absprache zu beenden, gab es bereits. Selbst die Richter regten eine Einigung an. Wie steht es um die beantragte Begnadigung?

 01.12.2025

Ehemalige Geiseln

»Eli war wie ein Vater für mich«

Alon Ohel und Eli Sharabi treffen sich nach der Freilassung zum ersten Mal wieder

von Sabine Brandes  01.12.2025

Haifa

Nach abgesagter Auktion: Holocaust-Zeugnisse jetzt in Israel

Die geplante Versteigerung von Holocaust-Zeugnissen in Deutschland hatte für große Empörung gesorgt. Nun wurden viele der Objekte nach Israel gebracht und sollen dort in einem Museum gezeigt werden

von Sara Lemel  01.12.2025