Wenn man einen Moment darüber nachdenkt, dann haben wir es mit einem erstaunlichen Attribut zu tun. Man liest oder hört etwas über einen besonders regen Rabbiner, und nicht selten wird gesagt, dieser oder jener sei ein echter »Talmid Chacham«. Erstaunlich ist es deshalb, weil Talmid eigentlich Schüler bedeutet. Und »chacham« heißt weise. Ein Rabbiner, der ein weiser Schüler ist? Weise können viele sein, das steht schon im Talmud: Im Traktat Megilla (16a) heißt es, wer etwas Weises sage, der gelte als Chacham – als Weiser. Auch dann, wenn es sich um einen Nichtjuden handelt. Aber diese Person ist noch kein Talmid Chacham.
Als tatsächlicher Schüler im Sinne von (jungen) Leuten in Ausbildung begegnet uns der Talmid Chacham im Talmud und der späteren halachischen Literatur nicht. Es sind also nicht die Jahrgangsbesten gemeint. Dann wäre dies ja ein Titel, den man sich in jungen Jahren erworben hätte.
Wissen Tatsächlich wird auch heute manch ein Toragelehrter »Talmid chacham« genannt – das bedeutet, dass er äußerst gelehrt ist und dies nicht nur durch lexikalisches Wissen beweisen kann, sondern auch tadellos handelt. Mit dieser Sichtweise verschmelzen die heutigen Ansichten mit denen des Talmuds, und der ist die Hauptquelle für die Verwendung des Begriffs.
Schon im Talmud werden einzelne Rabbiner, die im eigentlichen Sinne keine Schüler mehr sind, mit dieser Bezeichnung versehen oder von anderen Rabbinen so genannt. Rabbi Elieser ben Jaakow zum Beispiel nennt Rabbi Chanina einen Talmid Chacham (Awoda Sara 17b). Noch verwirrender wird es, wenn man merkt, dass es selbst unter den Gelehrten Abstufungen zu geben scheint: In Taanit 7a wird gesagt, es gebe große und kleine Chachamim. So wie das kleinere Brennholz das größere entzünde, so schärfe der kleine Talmid Chacham den Geist des größeren.
Lehrhaus Ab welchem Zeitpunkt man ein Talmid Chacham ist, legt der Talmud nicht fest. Er erwähnt jedoch auch einige Attribute eines Talmid Chacham, die auf seinen besonderen Status hinweisen sollen: Er trägt lange Kleidung (Baba Batra 57b), und diese soll dementsprechend rein und sauber sein (Schabbat 114a). Im Traktat Berachot (43b) werden sechs Dinge genannt, die ein Talmid Chacham nicht tun sollte: Er sollte nicht parfümiert verreisen, sollte sich nachts nicht allein auf der Straße aufhalten, nicht mit geflickten Sandalen auf Reisen gehen, sich mit seiner Frau in der Öffentlichkeit nicht unterhalten, er sollte nicht in der Gesellschaft unwissender Menschen essen und nicht der Letzte sein, der ins Lehrhaus kommt. Interessante Anforderungen, die uns zusammengefasst mitteilen wollen: Von einem Talmid Chacham wird mehr erwartet als von anderen Juden.
Rabban Schimon ben Gamliel meint in der Mischna, jeder solle versuchen, selbst ein Talmid Chacham zu werden (Pessachim 4,5). Oder anders gesagt: Man solle nach dem größtmöglichen Ideal streben, denn dieses scheint der Talmid Chacham zu sein: eine Person, die weise ist, dieses Wissen anderen vorlebt und dafür geehrt wird. Die Person selbst allerdings ist sich bewusst darüber, dass jüdisches Lernen niemals abgeschlossen ist. Mit dieser Einsicht stehen die Talmidej Chachamim dann in der Tradition ihrer Lehrer – die oftmals ebenfalls Talmidej Chachamim waren und zeitlebens nach mehr Weisheit strebten.