Im Mussafgebet, der festlichen Zusatzliturgie am Vormittag von Jom Kippur, bildet die Awoda einen Höhepunkt der Gebetsordnung. Sie enthält die minutiöse Be- schreibung der priesterlichen Opferdienste an diesem heiligen Tag im einstigen Tempel.
Unsere Vorfahren haben im biblischen Altertum nur bestimmte Tiere geopfert, und nur eine bestimmte Anzahl. Das war fortschrittlich, sagen Religionshistoriker. Denn in der Umgebung der Israeliten wurden damals Kulte praktiziert, die das Opfern von Menschen, ja sogar von Kindern, forderten.
Bei der priesterlichen Zeremonie am Jom Kippur im Jerusalemer Tempel wurde das Opfertier nicht getötet, sondern man schickte es in die Wüste. In der Tora lesen wir: »Jedoch den Bock, auf den das Los für Asasel fällt, soll er, der Priester, lebendig vor den Herrn stellen, dass Er über ihm versöhne und lasse den Bock für Asasel in die Wüste« (3. Buch Mose 16,10).
Wüste Asasel ist der Name eines nicht näher erklärten Wüstendämons, auf den sinnbildlich die Sünden der Israeliten aufgeladen wurden. Diesen Bock schickte man in die Wüste. Mit ihm verschwanden die Sünden vor den Augen des Volkes in der Wüste. Dieses Tempelritual des Kohen Gadol, des Hohepriesters, befreite damals die ganze Gemeinschaft von Sünde und Schuld.
Im Apokryphenbuch Henoch wird Asasel mit den »gefallenen Engeln« in Verbindung gebracht und dämonisiert. Die Apokryphen wurden nicht in unseren bibli- schen Kanon, den Tenach, aufgenommen.
Immer wieder muss auch heute noch betont werden, dass wir Juden in der nachbiblischen Zeit längst nicht mehr opfern. Wir haben seit 2000 Jahren unseren Tempel nicht mehr. Auch Sündenböcke jagen wir nicht mehr in die Wüste. Jom Kippur, der Versöhnungstag, hat heute einen zutiefst spirituellen Inhalt. Buße und Reue der eigenen Taten, Umkehr und Fasten bestimmen diesen Tag.
Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.d.Z. konnte dieses Ritual nicht mehr ausgeführt werden. Aber es fand Aufnahme in die synagogale Liturgie. Das Tempelritual wird heute im Jom-Kippur-G’ttesdienst von den Betenden aufmerksam gesprochen und nacherzählt. Aus dem Ritual mit dem Bock entstand der bis heute allzu oft als verwerflich und leichtsinnig gebrauchte Begriff »Sündenbock«. Wie sich dieser Begriff seit dem Mittelalter bis in unsere Zeit hinein entwickelt hat, wissen wir. Meistens ging es dabei gegen eine unschuldige und wehrlose Minderheit in Europa: gegen Juden.
Mythologie Der bekannte französische Religionsphilosoph René Girard (Ausstoßung und Verfolgung, Frankfurt 1992) sammelte die Elemente für das Motiv des Sündenbocks in der Kulturgeschichte. Er stellt unter anderem fest: »Die Austauschbarkeit von Mensch und Tier ist die wichtigste Modalität des Monströsen in der Mythologie.«
Im Mittelalter behauptete man, dass Minderheiten, namentlich Juden, »mit dem Ziegenbock verbunden« seien. »Und schon ruft alles nach Verfolgung«, schreibt Girard, »weil in der kollektiven Gewalt eine Maschinerie zur Mythenherstellung« erkennbar wird.
Man kann feststellen, dass der heutige, von jeglichen religiösen und kulturellen Inhalten befreite Begriff »Sündenbock« eine Person oder eine Gruppe bezeichnet, die in den Mittelpunkt gestellt wird – wenn man so will: in die Schusslinie. Sie wird für etwas beschuldigt, was sie nicht verursacht hat, ja nicht einmal verursacht haben kann.