Glossar

Rechts vor Links

Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums

von Rabbiner Joel Berger  19.06.2012 10:53 Uhr

Auch im Straßenverkehr gibt es die Regel Rechts vor Links. Foto: imago

Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums

von Rabbiner Joel Berger  19.06.2012 10:53 Uhr

Gemäß unserem Gesetzeskodex Schulchan Aruch muss beim An- und Ausziehen der Schuhe eine bestimmte Reihenfolge eingehalten werden. Zuerst zieht man den rechten Schuh an, dann den linken. Beim Ausziehen beginnt man mit dem linken (Talmud, Schabbat 61a; Schulchan Aruch, Orach Chajim 2, 4, 5 und 4,10). Dem Ganzen liegt zugrunde, dass rechts der Vorzug vor links zu geben ist. Wie relevant diese Aussagen sind, lernen wir an vielen Stellen des jüdischen Schrifttums.

Bereits in den biblischen Erzählungen spielen rechts und links eine erhebliche Rolle. So lesen wir als Beleg der Friedfertigkeit und Nachgiebigkeit des Erzvaters Awraham gegenüber seinem Neffen Lot: »Lass doch nicht Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten; oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken« (1. Buch Moses 13, 8-9).

Erstgeborener Hier sind noch keine Prioritäten zwischen rechts und links festzustellen. Doch im Weiteren, als Jakow den Segen an die Söhne Josefs erteilt, wollte dieser, dass die rechte Hand des Segnenden auf dem Haupt des Älteren ruhe. Jakow aber verhieß dem Jüngeren eine schönere Zukunft und beharrte darauf, dass ihm die Rechte zukomme: »Da aber Josef sah, dass sein Vater die rechte Hand auf Ephraims Haupt legte, missfiel ihm das, und er fasste seines Vaters Hand, dass er sie von Ephraims Haupt auf Manasses Haupt wendete, und sprach zu ihm: ›Nicht so, mein Vater, dieser ist der Erstgeborene, lege deine rechte Hand auf sein Haupt‹« (1. Buch Moses 48, 13-19). Diese Torastelle lässt bereits die Vorzüge der Rechten erkennen.

Nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten und dem Durchqueren des Schilfmeers stimmt Mosche ein Loblied an, in dem er die Herrlichkeit und Macht G’ttes preist: »Herr, Deine rechte Hand tut große Wunder; Herr, Deine rechte Hand hat die Feinde zerschlagen« (2. Buch Moses 15,6). Auch in den Psalmen finden wir: »Die Rechte des Herrn behält den Sieg« (118,15).

Ehrenplatz Nicht nur die rechte Hand und das rechte Auge werden bevorzugt, sondern auch der rechte Körperteil des Menschen. Sogar der Platz zur Rechten gilt als Ehrenplatz: »Und es wurde der Mutter des Königs ein Stuhl gesetzt, dass sie sich setzte zu seiner Rechten« (1. Könige 2,19). Bei der Vision des Propheten Sacharja erhielt sogar der »Satan« (der Ankläger) den Platz zur rechten Seite des Kohen Gadol: »Der Ankläger steht zu seiner Rechten, ihn zu verklagen« (Sacharja 3,1).

Unter den halachischen Begründungen der Begünstigung der rechten Hand wird erwähnt, dass die Tora am Sinai aus der rechten Hand G’ttes empfangen wurde. Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Tefillin mit der rechten Hand an die Linke angelegt werden sollen (Menachot 37a).

Erst diese Aussagen aus Tora und Talmud liefern den Hintergrund zu dem kodifizierten Rechtssatz des Schulchan Aruch über das An- und Ausziehen der Schuhe: Als Erstes wird der rechte Schuh angezogen, danach der linke. Beim Ausziehen achte man darauf, dass zuerst der linke abgestreift wird. Weil rechts wichtiger ist als links, sollte der rechte Fuß nicht unbedeckt bleiben, während der linke bedeckt ist.

Auch für das Schuheschnüren gelten bestimmte Regeln: Zuerst links, dann rechts, denn das Binden der Schuhe ist eine Anlehnung an das Anlegen der Tefillin. Und weil Linkshänder die Tefillin am rechten Arm anlegen, gilt für sie, dass der rechte Schuh zuerst gebunden wird und erst dann der linke.