Wettkämpfe sind dann besonders spannend, wenn die Kontrahenten nicht nur gegeneinander kämpfen, sondern auch gegen die Zeit. In den letzten Minuten schaut das Publikum gebannt auf die Uhr und das Spielgeschehen. Bis zum Ende ist jeder Spielzug wichtig. Diese Stimmung kann man auf die letzten Minuten von Jom Kippur übertragen. Zehn wichtige Feiertage kommen zu ihrem Ende. Und so heißt es im Ne’ila-Gebet auch: »Es neigt sich der Tag, die Sonne sinkt; wir gehen in deine Tore ein«. Am emotionalen Höhepunkt und Ende von Jom Kippur steht das Gebet »Ne’ilat Sche’arim« (Schließen der Tore) kurz »Ne’ila«, das auf Mincha, das Nachmittagsgebet, folgt, wenn die Sonne bereits sinkt.
Diese Art von zusätzlichem, fünften Tagesgebet ist heute einmalig. Der Talmud kennt es aber auch von anderen Fastentagen und Tagen, an denen die Kohanim gemeinsam mit Stellvertretern aus den Provinzen im Tempel Opfer darbrachten (Taanit 26a).
Tempeltore Zur Stimmung von Jom Kippur und dem nahenden Ende des Tages passt die Interpretation, dass mit »Nei’lat Sche’arim« das Schließen der himmlischen Tore gemeint sein könnte. Einleuchtend wäre jedoch auch die Erklärung, dass sich dies auf das Schließen der Tempeltore am Ende von Jom Kippur beziehen könnte. Beide Interpretationen werden bereits im Talmud Jeruschalmi diskutiert. Rav und Rabbi Jochanan führen genau diese beiden Interpretationen an (Berachot 4,1).
An einer anderen Stelle im Talmud (Joma 87b) diskutiert Rav mit Rabbi Schmuel darüber, was »Ne’ilat Sche’arim« bedeutet. Rav meint, dies sei eine zusätzliche Amida, und Schmuel sagt, es handele sich um das Gebet »Was sind wir? Was ist unser Leben?«.
Durchgesetzt hat sich Rav. Rabbi Jitzchak Alfasi, der Rif (1013–1103), zitiert in seinem Sefer ha Halachot (Joma 6b) die Diskussion und sagt, die Halacha richte sich nach Rav, und auf das Ne’ila-Gebet mit seiner Amida folge das Ma’ariw.
Jom Kippur Daraus können wir lernen, dass das Ne’ila-Gebet schon zur Zeit von Rav, Rabbi Jochanan und Schmuel fester Bestandteil von Jom Kippur und die tatsächliche Bedeutung der Bezeichnung bereits damals unklar war. Dabei sind die Meinungen von Rav und Rabbi Jochanan gleichermaßen plausibel. Zum einen ist der Dienst der Kohanim im Tempel ein wiederkehrendes Element in den Gebeten von Jom Kippur, zum anderen wird auf das Schließen der Tore in der Ne’ila selbst Bezug genommen.
Ein weiteres Element spricht für den Zusammenhang mit dem Tempeldienst: Der Kohen Gadol, der Hohepriester, musste an Jom Kippur seine Gewänder fünfmal wechseln, und vor jedem Wechsel musste er untertauchen, um sich zu reinigen (Mischna Joma 3,3). Die Anzahl der gesprochenen Amida-Gebete gleicht heute nun der Anzahl dieser Tauchbäder und bildet so auf einer weiteren Ebene den Tempeldienst an diesem Tag ab.
Unser heutiges Ne’ilat Sche’arim hat also eine etwas andere Form als zu Zeiten des Talmuds, aber unbestritten liegen seine Wurzeln im Tempeldienst der Kohanim an diesem Tag – dies spiegelt sich in den Texten und der Zusammenstellung der Gebete wider. Wenn wir uns dieser Überlagerungen bewusst sind, können wir Jom Kippur und seine letzten Minuten intensiver erleben.