Die Tora schreibt den Kohanim einen Segensspruch genau vor. Sie dürfen kein Wort hinzufügen und keines auslassen: »Also sollt ihr segnen die Kinder Israel, sprecht zu ihnen: ›Es segne dich der Ewige und behüte dich; der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig; der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden!‹« (4. Buch Mose 6, 23–26).
Rabbiner Joseph Herman Hertz (1872–1946) schreibt in seinem Kommentar: »Kündet den Kindern Israel die geheiligte und Segen bringende Nähe des lebendigen G’ttes. In diesem Gebet für Israel sprachen die Kohanim über das Volk hin den unaussprechlichen Namen G’ttes aus. Außerhalb des Tempels wurde nur ›Adonaj‹ als Umschreibung des Tetragrammaton gebraucht.«
Amida Die drei Verse des Priestersegens werden täglich in der Wiederholung der Amida (Achtzehngebet) des Morgengebets rezitiert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Praxis im Land Israel und der Praxis in den aschkenasischen Gemeinden in der Diaspora.
In den Ländern der Diaspora trägt der Vorbeter den Text des Priestersegens einfach vor. In Israel hingegen treten die anwesenden Kohanim vor den Toraschrank, erheben die Hände und wiederholen Wort für Wort den Segensspruch, den der Vorbeter ihnen vorspricht.
In der Diaspora erheben die Kohanim ihre Hände nur an Feiertagen – das heißt, weder an gewöhnlichen Wochentagen noch am Schabbat. Und sogar an den Feiertagen kann man in den Synagogen einen wichtigen Unterschied feststellen: Außerhalb Israels treten die Kohanim nur im Mussafgebet zum Segensspruch nach vorn. Im Heiligen Land hingegen sowohl im Schacharit- als auch im Mussafgebet.
Minhagim Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Wieso gibt es so unterschiedliche Minhagim? Zweitens: Wenn es, wie der Rambam, Maimonides (1135–1204), und das Sefer HaChinuch lehren, ein Gebot der Tora ist, dass die Kohanim täglich den Priestersegen sagen, wieso wird diese Mizwa außerhalb Israels nicht täglich ausgeübt?
Rabbiner Menachem Azaria aus Fano (1548–1620) nannte die Praxis der Diasporajuden einen »schlechten Minhag«. Bedeutende Gelehrte, wie der Gaon von Wilna (1720–1797) und Rabbiner Chajim Wo- loszyner (1749–1821), äußerten die Absicht, Nessiat Kapajim außerhalb Israels täglich praktizieren zu lassen. Aber wie Rabbiner Jechiel M. Epstein (1829–1908) in seinem Werk Aruch HaSchulchan (Orach Chajim 128,64) bemerkt, konnten beide ihren Plan nicht umsetzen und sahen im Scheitern ein Zeichen des Himmels.
Eine Begründung für die aschkenasische Praxis liefert Rabbiner Mosche Isserles (1525–1572). Rabbiner Schlomo Ganzfried (1804–1886) referiert sie in seinem Kizzur Schulchan Aruch: »Der Brauch in unseren Ländern ist, dass der Priestersegen nur am Jom Tow gesprochen wird, weil sich da alle in Festesfreude befinden; und am Jom Hakippurim ist die Freude über die Vergebung und Verzeihung; und wer frohen Herzens ist, der segne. Dies ist an anderen Tagen, selbst an den Schabbattagen des Jahres nicht so, weil die Menschen durch Gedanken über ihren Lebensunterhalt und die Versäumnis ihrer Arbeit in Anspruch genommen sind« (100,1).
Bei näherer Prüfung erweisen sich die vorgebrachten Argumente als nicht sehr stichhaltig. So kann man einwenden: Wegen solcher Gründe soll man auf die tägliche Ausübung eines Gebotes der Tora verzichten?
Diaspora Rabbiner Elchanan Samet schlägt eine ganz andere Lösung des Problems vor. Wie kam es dazu, dass die Kohanim in der Diaspora Nessiat Kapajim nur noch an Feiertagen praktizieren? Die Entstehung dieses Brauchs wäre zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass in unserer Zeit das Erheben der Hände nur eine rabbinische Verordnung ist. Genau diese Auffassung vertrat Rabbiner Jakob Emden (1697–1776). Nur im Tempel benutzten die Kohanim das Tetragrammaton und erfüllten damit das Gebot der Tora. Außerhalb des Tempels wird jedoch nur die Umschreibung »Adonaj« benutzt, und erfüllt wird lediglich eine rabbinische Anordnung.
Nach Rabbiner Samets Erklärung liegt den verschiedenen Minhagim eine halachische Meinungsverschiedenheit zugrunde. Folgt man in den Spuren von Maimonides, dann erfüllen Kohanim auch in unseren Tagen mit der Erwähnung des Namens »Adonaj« das biblische Gebot. Nach Auffassung anderer Halachisten erfüllen Kohanim unserer Tage lediglich eine rabbinische Vorschrift. Die Einwände gegen die Praxis in der Diaspora verlieren an Gewicht, wenn man die Ansicht von Rabbiner Emden teilt. Die Rabbinen haben das Aufsagen des Priestersegens angeordnet, und zwar aus diesem oder jenem Grund in reduzierter Häufigkeit.