Unter Umständen hat man es schon ein paar Mal in der Synagoge gehört: Direkt nach der Lesung der Tora spricht der Aufgerufene »Birkat HaGomel«.
Mittlerweile ist diese Bracha, dieser Segensspruch, nämlich fast ein Teil des Aufrufs geworden. »Gepriesen seist Du, HaSchem, unser G’tt, König der Welt, der den Schuldigen Gutes erweist und mir so viel Gutes erwiesen hat«, gesprochen natürlich auf Hebräisch, wird von der Gemeinde im Idealfall mit dem Satz »Der dir Gutes erwiesen hat, möge dir auch weiterhin viel Gutes erweisen. Sela« beantwortet und folgt direkt auf den Segensspruch, den man nach der Toralesung spricht.
gefahr Natürlich nehmen wir an, dass G’tt uns allen viel Gutes erwiesen hat und hoffentlich weiterhin erweisen wird. Diese Bracha ist jedoch an einen konkreten Anlass gebunden. Sie wird von einer Person gesprochen, die kurz zuvor einer lebensbedrohlichen Situation entkam, aus einer Gefahr errettet wurde.
In vielen modernen Siddurim wird in einem Begleittext angegeben, dass man die Bracha nach der Befreiung aus der Gefangenschaft spricht, nach einer schweren Krankheit oder nach einer See- oder Flugreise. Es hat sich zudem durchgesetzt, dass man die Bracha spätestens drei Tage nach dem entsprechenden Ereignis sagen sollte, so heißt es etwa in Josef Karos (1488–1575) Schulchan Aruch (Orach Chajim 219,6). So weit die gängige Handhabung.
dankopfer Doch richtig interessant wird es, wenn wir in der Zeit zurückgehen und betrachten, woher die Praxis stammt. Tatsächlich ist sie nämlich sehr alt. Sie wird bereits im Talmud behandelt (Berachot 54b) und ist die direkte Fortsetzung einer Praxis aus der Zeit des Tempels. Diese wiederum wird im 3. Buch Moses (7,12) geboten. Als der Tempel noch existierte, brachte eine Person, die eine lebensgefährliche Situation überlebte, ein Korban Toda, ein Dankopfer.
Im Talmud wird entsprechend auch diskutiert, was lebensgefährdende Situationen sind. Es werden vier Hauptgruppen genannt, die leicht von der heutigen Praxis abweichen und zeigen, dass die talmudischen Regelungen mit der Zeit auf neue Erfordernisse übertragen worden sind: »Rav Jehuda sagte, dass Rav sprach: Wer muss Dank bringen? Seefahrer, diejenigen, die durch die Wüste gehen, jemand, der krank war und gesund wurde, und jemand, der in Gefangenschaft war und herauskam« (Berachot 54b).
All diese Anlässe sind übrigens aus Psalm 107 abgeleitet und werden im Talmud mit Zitaten aus diesem Psalm belegt. Und weil die Praxis schon zu Zeiten des Talmuds eingeführt war, finden wir Birkat HaGomel auch in späteren halachischen Werken. Dort werden all diese Situationen genannt und diskutiert: etwa bei Maimonides, dem Rambam (1135–1204), Hilchot Berachot 10,8 oder im Schulchan Aruch (Orach Chajim 219,1-2).
reisen Die Flugreisen kamen natürlich später hinzu und sind vielleicht nicht wegen einer unmittelbaren Lebensgefahr zu erwähnen, sondern wegen ihrer Analogie zu einer Reise über das Wasser oder durch eine Wüste. Erwähnenswert ist, dass man Gomel sagen sollte, wenn man sich tatsächlich in einer lebensbedrohlichen Situation befand und ihr nicht etwa nur entkam (Mischna Berura 219,32). Es macht also einen Unterschied, ob man – G’tt bewahre – in einen schweren Autounfall verwickelt war oder diesem um Haaresbreite entgangen ist, weil man rechtzeitig bremste.
Im Talmud wird übrigens gesagt, dass man Gomel in Anwesenheit von zehn Personen sprechen sollte. Zwei davon sollten sich sogar mit Halacha beschäftigt haben. Dass die Bracha am Ende des Aufrufs zur Tora gesagt werden muss, ist also nicht festgelegt, sondern möglicherweise einfach eine Gelegenheit, bei der ein Minjan gesichert ist.