Die aschkenasischen Juden scheinen Freunde des Kompromisses zu sein. Die sefardischen dagegen entscheiden sich etwas klarer für oder gegen eine Sache. Zwei deutliche Beispiele sind die Position der Mesusa und das Sprechen des Ahawa Rabba im Morgengebet. Während die Sefarden sich für eine halachische Tradition in Bezug auf die Mesusa entschieden haben, nämlich die vertikale Anbringung, hängen aschkenasische Juden sie schräg auf – als Kompromiss zwischen den zwei Möglichkeiten horizontal und vertikal.
Mit dem Gebet Ahawa Rabba – »mit großer Liebe« – verhält es sich ganz ähnlich, nur ist es nicht so offensichtlich. Ahawa Rabba ist Teil der Berachot, der Segenssprüche, vor dem Schma Jisrael im Morgengebet, und in dieser Funktion durchaus wichtig.
Der Talmud berichtet (Berachot 11b–12a), dass es aus der Zeit des Tempels stammt und die Kohanim damit ihren Dienst eröffneten. Mit dem Gebet oder der Bracha dankt man G’tt für die Gabe der Tora und bittet ihn, seinem Volk Israel geistiges Licht zu gewähren und es in die Lage zu versetzen, seine Gebote zu verstehen und zu befolgen. Zudem bittet es um die Sammlung der Juden aus allen vier Himmelsrichtungen.
Brachot Das Sprechen der Bracha vor dem Schma ist sogar so wichtig, dass laut Maimonides (1135–1204), dem Rambam (Hilchot Kriat Schma 1,7), der Text nicht verändert werden darf. Man soll ihn genauso sprechen wie überliefert. Man soll also nicht an der Einheit Brachot und Schma rühren. Sie gehören zusammen, und tatsächlich spiegeln sich die Themen des Schma Jisrael im Text der Gebete wider, und dies schon seit der Zeit, in der der Talmud entstand.
Im Talmud (Berachot 11b) wird von einer angeregten Diskussion berichtet, die unsere Bracha zum Thema hat und auch schon berichtet, dass es ein Gegenstück zum Ahawa Rabba gibt. Dieses heißt Ahawat Olam: »Man sagt nicht Ahawat Olam, sondern Ahawa Rabba«, ist die Meinung eines der Weisen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass die Diskussion nicht mit einer konkreten Entscheidung beendet wird. Einige machen es so und andere so, stellt der Talmud nur fest. Das setzt sich bis in unsere heutige Zeit fort.
Die Sefardim und diejenigen, die nach sefardischem, also chassidischem, Brauch beten, sprechen Ahawat Olam und können dies sogar mit einem Zitat aus dem Tanach belegen, während die Formulierung Ahawa Rabba so nicht im Tanach vorkommt. Stattdessen finden wir »Ahawat Olam ahawtich« (Mit unendlicher Liebe habe ich dich geliebt) im Buch Jirmejahu (31,2). Aber um Ahawat Olam nicht ganz zu verlieren, wurde es – und das ist der Kompromiss – ins Abendgebet, das Maariv, übernommen. Sefarden waren da entscheidungsfreudiger. Sie beten Ahawa Rabba zu keiner Zeit.
Liebe Rabbi Jisrael Meir Kagan (1838–1933) beschäftigt sich in seiner Mischna Berurah (Orach Chajim 60,1) ebenfalls damit und begründet die Aufnahme ins Morgengebet mit einem Zitat aus dem Buch Ejchah (3,23): »… denn sie sind jeden Morgen neu, deine Treue ist groß«. Ahawa Rabba erinnert uns also täglich daran, dass G’ttes Liebe sich uns zeigt, indem er unser Leben an jedem Morgen »erneuert«.
Aber die Tatsache, dass der Unterschied heute existiert und dass wir ihn wahrnehmen, ist doch schon ein Wert an sich. Zum einen denkt man über den eigenen Brauch nach, zum anderen schaut man auf eine Diskussion zurück, die fast 2000 Jahre andauert.