von Yossi Melman
Der jüngste US-Geheimdienstreport zum iranischen Nuklearprogramm schlug ein wie eine Atombombe. Jedenfalls mussten es die Vertreter des politischen und militärischen Establishment in Israel so empfinden. Der »National Intelligence Estimate« (NIE) überraschte, ja schockierte sie mit seiner Behauptung, der Iran betreibe seit 2003 kein geheimes Atomwaffenprogramm mehr. Weder der Mossad noch der israelische Militär-Geheimdienst hatten geahnt, dass ihre amerikanischen Verbündeten einen Bericht vorlegen würden, der ihren eigenen Erkenntnissen so eklatant widerspricht.
Auf viele Israelis wirkt der Bericht der 16 US-Geheimdienste wie ein Gutachten, das einem Pädophilen erlaubt, eine Stelle im Kindergarten anzutreten. Anders als ihre amerikanischen Kollegen glauben israelische Experten keineswegs, dass der Iran seine Bestrebungen zum Bau von Atomwaffen eingestellt hat. Zwar bezweifeln sie nicht, dass der Iran 2003 sein Rüstungsprogramm auf Eis legte; doch anders als die Amerikaner sind sie davon überzeugt, dass es 2005, nach dem Amtsantritt von Präsident Ahmadinedschad, wieder aufgenommen wurde. Nun befürchten sie, dass der Iran den Bericht als Freifahrtschein betrachtet, seine Arbeiten an der ersten schiitischen Bombe noch ungehinderter fortsetzen zu können.
Zwei Tatsachen gilt es festzuhalten. Erstens: Die Daten und Informationen, die die israelischen und die amerikanischen Geheimdienste bezüglich des Iran zusammengetragen haben, überschneiden sich zu 95 Prozent. Das ist auch kein Wunder, schließlich arbeiten der Mossad, die CIA, der deutsche BND und der britische MI 6 in zahlreichen verdeckten Operationen zusammen. Berichte, nach denen die US-Geheimdienste extra für sie inszenierte Gespräche abgehört hätten (vgl. Jüdische Allgemeine vom 13. Dezember) sind wenig glaubwürdig. Was sich unterscheidet, ist die Interpretation desselben Datenmaterials. Der Grund dafür ist möglicherweise eine Frage der Geografie. Verteidigungsminister Ehud Barak sagte in der vergangenen Woche, würde der Iran auf Kuba liegen, wären die Amerikaner zu den glei- chen Schlussfolgerungen gelangt wie die israelischen Dienste.
Zweitens: Der NIE-Bericht entlastet den Iran keineswegs, wie so viele amerikanische und europäische Kommentatoren fälschlich vermuten. Im Gegenteil: Er ist sogar eine starke Anklageschrift. Er untermauert die Warnungen israelischer Geheimdienste, dass der Iran illegale Vorberei- tungen zum Bau einer Atombombe betrieben hat. Der Bericht enthüllt, dass der Iran tatsächlich ein geheimes Atomwaffenprogramm hatte – ein eklatanter Verstoß gegen internationale Abkommen und Verpflichtungen gegenüber der Weltgemeinschaft. Der Iran hat die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) beinahe 20 Jahre lang systematisch hinters Licht geführt, indem er heimlich Nuklearanlagen gebaut und waffenfähiges Material im Ausland hinzugekauft hat. Er hat Versuche zur Plutonium- und Urananreicherung durchgeführt und eine Trägerrakete entwickelt – ohne dies offenzulegen. Wie kann man einem solchen Land über den Weg trauen? Heißt es nicht: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht?
Und es gibt noch eine weitere, weithin unbemerkte Tatsache. In dem Bericht wird betont, dass der Iran praktisch zu jedem beliebigen Zeitpunkt sein Rüstungsprogramm leicht wiederaufnehmen kann. Mit der Urananreicherung hat er ohnehin nie aufgehört, und schon allein damit hält er den UN-Sicherheitsrat zum Narren. Auch an seinen Langstreckenraketen baut der Iran weiter.
Ein Punkt des NIE-Berichts ist besonders bemerkenswert: Als einer der Gründe für die zeitweilige Aussetzung des iranischen Atomwaffenprogramms wird der internationale Druck genannt – und die Furcht, nach dem amerikanischen Angriff auf den Irak als nächstes dran zu sein. Mit anderen Worten: Es waren militärischer Druck und die Drohung mit Sanktionen, die die Mullahs zum Nachdenken brachten.
Das alles steht im NIE-Report. Aber was hilft’s? Es ist wie mit dem Kleingedruckten in einer Versicherungspolice – niemand liest es. Jeder nimmt nur die Schlagzeilen wahr: »Kein iranisches Atomprogramm«, »Bush hat gelogen«, »Weltkrieg abgesagt« und dergleichen. Und Israel, das nach wie vor im Zentrum der Vernichtungsdrohungen Ahmadinedschads steht, hat es nun noch schwerer als ohnehin schon, die Welt davon zu überzeugen, dass der iranische Wolf lediglich Kreide gefressen hat.
Der Autor ist Geheimdienst- und Terrorismusexperte. 2007 erschien von ihm »The Nuclear Sphinx of Tehran: Mahmoud Ahmadinejad and the State of Iran«.