von Bill Gladstone
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Kanada hat laut einem Bericht den höchsten Stand seit mehr als 25 Jahren erreicht. In seinem 2006er »Audit of Anti-Semitic Incidents« listet B’nai B’rit Kanada 935 Vorkommnisse auf, die im vergangenen Jahr bei der Menschenrechtsliga der Organisation gemeldet wurden. Knapp zwei Drittel wurden als Schikane, ein Drittel als Vandalismus und etwa drei Prozent als gewalttätige Übergriffe kategorisiert. Zu den Vorfällen gehören körperliche Angriffe, Drohanrufe, Aufruf zum Rassenhass im Internet, Vandalismus an Synagogen, Leugnung des Holocaust und eine Brandbombe an einer Schule in Toronto. Die Gesamtzahl liegt etwa 13 Prozent über der des Jahres 2005 und ist doppelt so hoch wie vor fünf Jahren und viermal so hoch wie vor zehn Jahren.
»Zunehmend richten sich Angriffe gegen Einzelpersonen«, sagt Frank Dimant, Vizepräsident von B’nai B’rit. »Die jüdische Gemeinschaft des Landes zählt 375.000 Mitglieder. Viele fühlen sich persönlich bedroht.« Pöbeleien und gewalttätige Übergriffe nehmen zu. Und das gehe weit über den üblichen Vandalismus hinaus. Die Zahlen zeigen, dass sich 49 Fälle am Arbeitsplatz ereigneten, 188 in Privathäusern und 54 an Schulen in ganz Kanada. Beinahe die Hälfte der gemeldeten Vorkommnisse trugen sich in Toronto zu, Hei- mat für fast die Hälfte aller Juden des Landes. 25 Prozent leben in Montreal.
Die Beispiele für Antisemitismus sind vielfältig und zahlreich. In den Provinzen an der Atlantikküste wurden in eine Wanderausstellung zum Gedenken an Anne Frank Flugblätter einer rassistischen Gruppierung geschmuggelt. An einer staatlichen Universität tauchte ein gewalttätiges, antisemitisches Computerspiel auf. In Manitoba besprühten Unbekannte einen Gehweg mit Nazi-Graffiti. In einer Mischung aus Verkehrsrowdytum und Rassismus wurde ein jüdischer Autofahrer von einem anderen Fahrer tätlich angegriffen, der brüllte, dass »ein Jude mit Schweineschnauze nicht fahren soll«, und ihn umzubringen drohte. In einem weiteren Fall wurde eine Frau in einem Park antisemitisch angepöbelt, die dann auf ihrem Handy die 24-Stunden-»Hotline gegen Hass« von B’nai B’rit anrief. Der Mitarbeiter verständigte die Polizei und blieb am Telefon, bis die Frau den Park sicher verlassen konnte.
Nur zehn Prozent solcher Vorfälle werden überhaupt gemeldet, glauben Vertreter von B’nai B’rit. Der Bericht zeigt auch: Es gab einen dramatischen Anstieg antisemitischer Aggression im vergangenen Sommer, zur Zeit des israelischen Kriegs gegen die Hisbollah. Ereignisse im Nahen Osten seien »globaler Auslöser« für antisemitische Delikte in Kanada und anderswo, resümieren die Verfasser.
Laut der von B’nai B’rit geführten Statistiken bestand die größte bekannte Tätergruppe aus Personen, die sich selbst als arabisch oder muslimisch bezeichneten. Eine der beunruhigendsten Episoden war für Dimant eine heimtückische Flüster- und E-Mail-Kampagne gegen Bob Rae auf dem letztjährigen Bundesparteitag der Liberalen, auf dem Rae für einen Führungsposten kandidierte. Delegierten wurde nahegelegt, nicht für ihn zu stimmen, da seine Frau jüdisch ist. »Das Team von Bob Rae berichtete, es habe eine andauernde antisemitische Kampagne gegeben. Die E-Mail war nur die Spitze des Eisbergs«, sagt Dimant. »Wenn diese Art von Antisemitismus in einem legitimen politischen Rahmen zutage tritt, gibt es keine Gewähr, dass es in anderen politischen Parteien nicht auch geschieht.«
Der Kanadische Jüdische Kongress veröffentlicht zwar keine Statistiken zu antisemitischen Aktivitäten, beobachtet die Entwicklung aber sehr genau. »Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es 2006 einen deutlichen Anstieg antisemitischer Straftaten in Kanada gegeben hat«, sagt der Vorsitzende des Kongresses, Bernie Farber.
Die Organisation B’nai B’rit fordert einheitliche Richtlinien für Urteile in Hassverbrechen-Prozessen und einen schnelleren und effizienteren Verfahrensverlauf. Auch eine verbesserte Berichterstattung über den Anstieg der antisemitischen Intoleranz in der kanadischen Gesellschaft in den Medien ist erwünscht, meint Dimant. In den Medien sei es en vogue, über Islamophobie zu berichten, während das viel größere Phänomen des Antisemitismus so gut wie komplett ignoriert werde, sagt er.
»Wenn ein Student sagt: ›Ich habe beschlossen, meinen Davidstern nicht mehr auf dem Campus zu tragen‹, ist das eine ganz furchtbare Entwicklung«, sagt Dimant. »In einem multikulturellen Land wie Kanada ist es erschreckend, dass ein Jude beschließt, unsichtbar zu werden, weil er den Antisemitismus auf den Fluren und in den Hörsälen seiner Universität fürchtet.«