Psychoanalyse

Verdrängt!

von Ingo Way

»Erkenne dich selbst«, hieß es bei den alten Griechen, bei Heraklit und Platon, so stand es auch am Eingang des Tempels von Delphi. Selbsterkenntnis sei die Voraussetzung jeder Philosophie. Das bedeutet, von Lebenslügen und Illusionen über das eigene Ich Abschied zu nehmen, auch wenn es bisweilen schmerzhaft ist. Es bedeutet, sich seiner Vergangenheit, seinem Gewordensein zu stellen, denn auf der Kenntnis der eigenen Geschichte ruht die Individualität.
Nicht nur ist das »Erkenne dich selbst« eine Grundlage der abendländischen Philosophie, es ist auch eine zentrale Forderung der Psychoanalyse. Für ihren Begründer Sigmund Freud beruhte alles psychi- sche Elend darauf, dass unangenehme oder peinliche Bewusstseinsinhalte ins Unbewusste der Psyche abgeschoben – verdrängt – werden. Doch damit sind sie nicht aus der Welt, sie faulen gleichsam vor sich hin, werden zur Ursache von Neurosen und Depressionen. Nur ein schonungsloses Bewusstmachen des Unbewussten und Verdrängten bereite den Weg zur seelischen Gesundung, glaubte Freud: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten.
Alles gar nicht wahr, sagt jetzt Yacov Rofé, Leiter der interdisziplinären Abteilung für Sozialwissenschaften der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan. Es gebe »keine Beweise« für Freuds Theorie der Verdrängung. Rofé hat eine vergleichende Studie der Forschungsliteratur aus den vergangenen 100 Jahren vorgenommen, die sich mit dem Phänomen der Verdrängung beschäftigt. Sein Ergebnis, das er im März in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift »Review of General Psychology« veröffentlichte: »Es gibt keinerlei empirische Beweise für die Existenz der Verdrängung.« Da diese nach Freud aber das Fundament der gesamten psychoanalytischen Theorie sei, gelte es, so Rofé, eben diese zu »begraben« und sich auf andere Methoden zu konzentrieren, psychisch Erkrankten zu helfen.
Für Rofé hat dieser Befund auch eine eminent gesellschaftspolitische Bedeutung. Das Konzept der Verdrängung ist für ihn nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Seit etlichen Jahren gibt es in den USA und zunehmend auch in Israel – Westeuropa blieb bislang weitgehend verschont – eine Therapierichtung, die sich »Recovered Memory« nennt. Deren Anhänger glauben, dass so gut wie jede psychische Krankheit auf sexuellem Missbrauch beruht, der in der Kindheit erlitten und so gründlich »verdrängt« wurde, dass er dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich ist. Mittels Hypnose versuchen diese Therapeuten nun, die Erinnerung an den Missbrauch wieder hervorzurufen, was auch regelmäßig gelingt – und dann meist zur Folge hat, dass die Patienten den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen oder Strafanzeige stellen.
Kritiker weisen seit langem darauf hin, dass diese vermeintlichen Erinnerungen durch die Hypnose erst suggeriert werden. Traumatische Erlebnisse würden in der Regel nämlich nicht vergessen, sondern im Gegenteil immer wieder quälend ins Bewusstsein gerufen. In der Tat wurde in zahlreichen psychologischen Experimenten mittlerweile bestätigt, dass es möglich ist, falsche Erinnerungen hervorzurufen. Die Ergebnisse der Recovered-Memory-Therapien legen dies ohnehin nahe: Immer verrücktere »Erinnerungen« kamen zum Vorschein – von satanischen Messen bis zur Entführung durch Außerirdische.
Rofés Skepsis gegenüber solchen unseriösen Therapien, die den Patienten mehr schaden als nutzen, ist berechtigt. Doch beweist der Umstand, dass bisweilen falsche Erinnerungen an scheinbar Verdrängtes produziert werden, dass es überhaupt keine Verdrängung gibt? Und heißt es, dass das Aufdecken von tatsächlich Verdrängtem nicht wirklich heilsam sein kann?
Zunächst gilt es, die Begriffe zu klären. Verdrängung ist nicht gleich Verdrängung. Für die Recovered-Memory-Therapeuten sind es vor allem reale Ereignisse, wie sexueller Mißbrauch, die der Verdrängung anheimfallen. Freud meinte jedoch etwas ganz anderes. Ihm zufolge werden Wünsche, Impulse, Vorstellungen verdrängt, wenn sie dem Ich als zu peinlich oder zu beängstigend erscheinen, weil sie nicht mit dem Ich-Ideal übereinstimmen – aggressive oder sexuelle Wünsche sind es zumeist, die etwa in Träumen wiederkehren, und nicht etwa realhistorisches Geschehen.
Rofé bezieht sich aber auf den verkürzten Begriff von Verdrängung, der eher ein besonders gründliches Vergessen umschreibt. Das Wühlen in der Vergangenheit, so Rofé in seinem Beitrag, nütze dem Individuum gar nichts. Vielmehr sei es ein Zeichen psychischer Gesundheit, unangenehme Erlebnisse vergessen – »verdrängen« – zu können. Damit widerspricht er allerdings seiner ursprünglichen Aussage, nach der es das Phänomen ohnehin nicht gebe. Verdrängung existiert gar nicht, und außerdem ist sie etwas Gutes.
Als Rofés Thesen vor drei Wochen in der Jerusalem Post vorgestellt wurden, war eine Reihe teils empörter Reaktionen von Psychologen wie von Laien die Folge. Ein Leser beklagte, dass das Auswerten von Studien nicht die Arbeit mit Patienten ersetze. Ein anderer verglich Rofé gar mit Holocaustleugnern. So unangebracht dieser Vergleich ist, so zeigt er doch, welcher Stellenwert der Erinnerung für die jüdische Identität nach der Schoa zukommt. Die literarischen Zeugnisse von Überlebenden sprechen Bände. Zu lange wurden in den ersten Jahren nach 1945 deren Erfahrungen unter den Teppich gekehrt, auch gerade in Israel, wo man in die Zukunft sehen und sich mit der Vergangenheit nicht belasten wollte. Doch ist dies ein gesellschaftliches Problem, kein individualpsychologisches.
Ein weiterer Leser der Jerusalem Post schrieb: »Unangenehme Tatsachen einfach zu ignorieren, ist eben dies: ignorant. Intelligenz bedeutet, auch unerfreuliche Dinge zur Kenntnis zu nehmen.« Vermutlich muss man sich von dem Gedanken verabschieden, dass ein Bewusstsein für die individuelle Geschichte mit all ihren Traumata und beängstigenden Schattenseiten automatisch zum seelischen Wohlbefinden beiträgt. Und dennoch können Wahrheit und die Freiheit von Lebenslügen Werte an sich sein – auch wenn sie belastend sind. »Erkenne dich selbst« heißt nicht: Werde glücklich. Wer möchte schon ein glücklicher Ignorant sein? In diesem Sinne bleibt Freud womöglich doch noch eine Weile aktuell.

Capri

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