Georgien

Stunde null

von Christian Jahn

Vor dem Kindergarten klafft ein tiefer Krater, die Schule ist zum Teil eingestürzt. Auch umliegende Wohnhäuser sind zerstört. »Es war unvorstellbares Glück«, sagt Beso Manascherow. Eine Bombe sei direkt vor dem Kindergarten eingeschlagen, eine zweite habe die Schule nebenan getroffen. »Weil das am Wochenende geschah, waren Kindergarten und Schule geschlossen, die Kinder waren zu Hause oder schon mit ihren Eltern auf der Flucht. So ist niemand zu Schaden gekommen.«
Beso Manascherow ist Arzt und Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in der Stadt Gori im nördlichen Georgien. Gemeinsam mit Grigori Brodski, dem Gesandten der Jewish Agency, ist er den ganzen Tag unterwegs gewesen. Die Männer fuhren durch die Stadt und die umliegenden Siedlungen, um sich einen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung zu verschaffen. In Notizblöcken haben sie festgehalten, was die Mitglieder der jüdischen Gemeinde jetzt am dringendsten brauchen. Hilfsbedürftige gibt es viele: Etwa die Familie Mamistwalow. Am 11. August warfen russische Flugzeuge Bomben über der Siedlung Werchwebi ab. Sie sollten militärische Objekte ver- nichten. Einige verpassten jedoch ihr Ziel und trafen drei fünfstöckige Wohnhäuser, darunter das Haus, in dem die Mamistwalows wohnten. Die Familie ist obdachlos.
Oder die drei Schwestern, die 70-jährige Bella, die 75-jährige Sina und die 60-jährige Manana: Auch ihr Haus wurde von russischen Bomben getroffen. Bella schickte ihre beiden Schwestern mit den Helfern des Jewish Joint Distribution Committee (JDC), der anderen jüdischen Hilfsorganisation, die im Gebiet tätig ist, in die georgische Hauptstadt Tiflis. Sie selbst blieb in Gori zurück, um sich in dem halb zerstörten Haus zu verbarrikadieren und Hab und Gut vor Plünderungen zu schützen. Sina und Manana wurden vom JDC bei Awraam Michaelaschwili untergebracht, dem Oberrabbiner von Tiflis. Aber das ist nur eine kurzfristige Notlösung.
Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges verstärkten die jüdischen Hilfsorganisationen ihre Teams in Tiflis. Jetzt noch werden Flüchtlinge vom JDC betreut. Zur Erstversorgung gehören Lebensmittel und Wasser sowie, wenn nötig, eine vorübergehende Unterkunft bei Gastfamilien. Darüber hinaus werden Kleidung, Schuhe, Matratzen und Bettwäsche ausgegeben. Ganz wichtig: psychologische Unterstützung und die Versorgung mit Medikamenten.
Niemand weiß genau, wie viele Juden derzeit noch in Tiflis betreut werden. In den ersten Tagen des Kriegs hätten sich mehrere hundert Menschen um Hilfe ans JDC-Büro in Tiflis gewandt, sagt Mitarbeiterin Dara Lehon.
Die United States Agency for International Development (USAID) schätzt die Gesamtzahl aller Flüchtlinge aus dem Kampfgebiet auf 160.000. Während viele Men- schen aus Südossetien ins russische Nord- ossetien flohen, suchte die Mehrheit der Georgier Schutz im nur 70 Kilometer von Gori entfernten Tiflis.
Auch die Jewish Agency kümmert sich in der georgischen Hauptstadt um die jüdischen Flüchtlinge und hilft Ausreisewilligen bei der Alija. 120 georgische Juden seien seit Ausbruch des Kriegs bereits nach Israel ausgereist, sagt Mitarbeiter Alex Selski, 100 weitere hätten Anträge gestellt bei den kurzfristig eingerichteten Krisen-Büros in Tiflis und Jerusalem. »Die ersten können bereits Mitte September ausreisen. Bei einigen verzögert sich die Abreise noch – sie haben Dokumente verloren oder wollen erst noch ihr Haus verkaufen. Das ist jetzt viel Behörden-Rennerei«, so Selski.
Zuletzt hatte es in den 90er-Jahren eine große Ausreisewelle aus Georgien gegeben. Nach Angaben der Jewish Agency haben sich zwischen 1989 und 2001 mehr als 21.000 Menschen in Richtung Israel auf den Weg gemacht. Jetzt geht der Exodus aus einer der ältesten Diaspora-Gemeinden der Welt weiter.
Während die Hilfsorganisationen die Flüchtlinge in ihren Auffangbüros in Tiflis mit Lebensmitteln, Seife, Zahnpasta, Kleidung, Bettwäsche und Geld versorgten, hat die Hilfe viele Flüchtlinge auf dem Land offenbar nicht erreicht. »Im Durcheinander der ersten Kriegstage haben wir nicht alle jüdischen Gemeindemitglieder finden und nach Tiflis evakuieren können«, sagt Beso. Nicht wenige hätten sich in den Bergen und umliegenden Wälder verkrochen. Auch sie kommen jetzt zurück nach Gori. »Sie wussten nichts von den Hilfsleistungen. Sie stehen jetzt mit leeren Händen da«, sagt Beso. »Der Joint und andere Hilfsorganisationen haben ihre Programme bereits eingestellt. Und einige der Krisen-Büros in Tiflis wurden inzwischen geschlossen.
Der kurze Krieg hat Gori und die Region heftig getroffen. Vielen Familien hat er die letzte dürftige Lebensgrundlage geraubt: Bevor die Bomben fielen, bekam der Sohn der Krecheli-Fridas regelmäßig Jobs von der örtlichen Arbeitsvermittlung. Mit dem bescheidenen Lohn konnte er einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der fünfköpfigen Familie leisten. Jetzt ist die Agentur geschlossen.
Schlecht geht es auch der neunköpfigen Familie Katiaschwili. Der Vater, auch ein Gelegenheits-Jobber, findet seit dem Krieg keine Arbeit mehr. Die Liste ließe sich fortsetzen. Laut Beso haben sich in Gori 74 Menschen gemeldet, die ohne jegliche finanzielle Mittel sind, in den benachbarten Siedlungen Kareli und Surami sind es 22 beziehungsweise 14.
»In Gori haben die Geschäfte wieder geöffnet. Es gibt frisches Brot und andere Lebensmittel. Auf dem Markt bieten die Verkäufer Obst und Gemüse an. Aber die Menschen, die aus ihren Verstecken heimkehren, haben kein Geld, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen«, sagt Beso. »Wir brauchen dringend Unterstützung.«

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