von Christine Schmitt
»Wie könnt ihr da nur wohnen?« Diese Frage wird Sebastian Schulz und Susanne Pobbig regelmäßig gestellt, wenn sie ihre Adresse verraten. Denn sie leben mit ihrem kleinen Sohn Jonathan in der Herbert-Baum-Straße 45 in Weißensee. »Aber wir wohnen nicht am, sondern auf dem Jüdischen Friedhof«, betont Susanne Pobbig. Und das würde doch viele irritieren.
Wie es sich dort leben lässt? »Sehr gut«, sagt das Paar. Und die beiden müssen es ja wissen, denn sie sind bereits vor sechs Jahren in die Wohnung des Verwaltungshauses, wenige Meter vom Eingang entfernt, gezogen. Das sei doch gruselig, wird ihnen dann mitgeteilt. Und wie könne man da ru-
hig und entspannt schlafen? Ebenso be-
hagt die Nähe zum Thema Tod etlichen nicht. Manche sagen aber auch, dass diese Adresse »echt abgefahren« sei und finden die Wohnlage sehr interessant. Für ihre Freunde und Familienangehörigen sei es inzwischen normal, dass die beiden dort le-
ben. Auch daran, dass sich die Männer beim Betreten des Friedhofes eine Kopfbedeckung aufsetzen müssen, störe sich keiner mehr.
»Ich genieße diese Ruhe, das Vogelge-zwitscher und die Natur hier sehr«, sagt Susanne Pobbig. »Wir leben wie in einem Wald – nur mitten in der Stadt«, meint der 31-jährige Graphiker. Auch wenn die Fens-ter geöffnet sind, bleibt es ruhig. Nachbarn gibt es in dem Verwaltungshaus keine – und sie fehlen ihnen auch überhaupt nicht. »Wir genießen es, für uns zu sein.« Nur in dem wenige Meter entfernt liegenden Pförtnerhaus wohnt noch eine Mitarbeiterin der Gemeinde.
Das Paar hatte schon einige Jahre im Bezirk Weißensee gelebt, als es begann, eine größere Wohnung zu suchen. Für sie stand fest, dass nur Altbau infrage kommt. Eines Tages sahen sie in einer Tageszeitung die Anzeige der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die eine Drei-Zimmer-Wohnung im Verwaltungshaus des Friedhofs zur Miete anbot. Zuvor hatte dort der ehemalige Hausmeister des Friedhofes gewohnt, nach dessen Auszug habe die Wohnung zwei Jahre lang leer gestanden und sei saniert worden. Auf die Anzeigen in den jüdischen Zeitungen hatte sich kein Interessent gemeldet, weshalb schließlich in den Berliner Zeitungen inseriert wurde. Prompt machten Sebastian Schulz und Susanne Pobbig einen Besichtigungstermin aus. »Uns gefielen die Räume auf An-
hieb«, erzählt Susanne Pobbig. Den Friedhof kannten beide schon längst, da sie gerne auf dessen 42 Hektar großen Grundstück, auf dem es mehr als 115.000 Grab-
stätten gibt, spazieren gingen. Nach der Besichtigung hörten sie erst einmal lange nichts von der Gemeinde und hatten die Hoffnung schon aufgegeben, bis eines Ta-
ges ein Gemeindemitarbeiter anrief und fragte, wann sie denn einziehen wollten. »Da haben wir uns total gefreut«, so die 31-jährige Mediendesignerin. Später haben sie dann erfahren, dass so mancher Interessent bei der Bewerbung gesagt hätte, dass man dann ja in Ruhe über den Friedhof joggen könnte. »So einen Gedanken kennen wir nicht«, sagt das Paar. Für sie sei es selbstverständlich, die Totenruhe zu respektieren und sich auch an die Öffnungszeiten zu halten und auch nur dann den Friedhof zu betreten – obwohl sie von Gräbern umgeben leben und der Blick durch das Fenster des Kinderzimmers auf Grabreihen hinausgeht. Im Mietvertrag wird auch festgehalten, dass »die Würde des Ortes zu achten ist«. Es ist ja kein Stadtpark, betonen beide.
Eine Lieblingsrunde haben beide für sich mittlerweile ausgemacht, nämlich et-
was weiter weg vom Eingang und Verwaltungsgebäude, wo kaum noch jemand hinkomme. Sogar eine kleine Besichtigungstour für Freunde habe sich so entwickelt – mit Grabstellen von Prominenten und Gräbern, die »fast so groß wie ein Haus« seien. Auch sind sie den Weg an der Mauer abgegangen. »Zwei Stunden braucht man da-
für«, haben sie festgestellt.
So mancher Friedhofsbesucher unterschätzt wohl auch die Dauer des Rückweges oder vergisst die Schließzeit – denn im Sommer wird beispielsweise um 17 Uhr dicht gemacht. Da komme es schon mal vor, dass noch ein Besucher auf dem Ge-
lände sei, wenn das Tor verriegelt ist – meistens klingeln sie dann bei Pobbig-Schulz, in der Hoffnung, dass sie so hinausgelassen werden. Manchmal kommen aber auch Besucher aus den USA oder Israel und finden einen abgeschlossenen Friedhof vor – und nicht jeder bringe da-
für Verständnis auf, dass ihm die beiden nicht weiterhelfen können, obwohl sie einen Schlüssel haben.
Auch Rabbiner Martin Riesenburger sel. A. hatte einen Schlüssel zum Tor, denn er wurde 1943 aus der Haft entlassen und von der Gestapo zum Friedhof Weißensee versetzt, wo er Kultgegenstände versteckte und Gottesdienste abhielt, heißt es in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie von Rudolf Vierhaus. Er soll in der Wohnung im Verwaltungshaus gelebt haben. Nach der Schoa habe der Rabbiner die ersten offiziellen Gottesdienste im Pförtnerhaus abgehalten.
»Es ist immer schön, das alte Tor aufzuschließen«, sagt Sebastian Schulz. Wenn die dreiköpfige Familie mal woanders übernachtet, dann störe sie der Lärm der Großstadt. »Wie kann man nur so laut wohnen«, fragen sie sich dann.