Folter

Schmerzgrenze

von Rabbiner Carl Perkins

Vor längerer Zeit sprach ich mit einer Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte. »Wie war die Entbindung?«, fragte ich. Und sie antwortete: »Der Mensch, der die Epiduralanästhesie (eine regionale Narkose, die im gesamten Unterleib zu Schmerzfreiheit und Entspannung führt) erfunden hat, der hat den Nobelpreis verdient.«
In dieser Woche musste ich an diese Unterhaltung denken. Ich saß beim Zahnarzt und wartete darauf, dass das Novocain zu wirken beginnt. Das Medikament wurde vor ungefähr 100 Jahren erfunden. Derweil erzählte mir die russischstämmige Zahnarzthelferin, dass sie in ihrer alten Heimat ein solches Schmerzmittel nicht gehabt haben. Dennoch hatte sie sich damals einer ähnlichen Behandlung unterziehen müssen, ohne Novocain. Sie musste einen Monat lang an Zahnschmerzen leiden, als sie auf eine Krone wartete.
Was ist Schmerz? Auf jeden Fall ein natürlicher Vorgang. Schmerz kann überwältigend sein. Wir sind bereit, vieles zu tun, um ihn zu vermeiden. An einem bestimmten Punkt unseres Lebens verstehen wir auch, dass es falsch ist, jemandem Schmerz zuzufügen. William Schulz, ein früherer Direktor von Amnesty International, erzählte einmal, dass er im Alter von sieben oder acht Jahren stets nach der Schule mit einem Hund aus seiner Straße spielte. Dabei hielt er ihn immer an den Vorderpfoten und tanzte mit ihm. Er hatte bemerkt, dass der Hund nach einigen Minuten nicht mehr mitmachen wollte. Er hatte Schmerzen. Erst als der Hund aufjaulte, ließ er ihn los. Am nächsten Tag wiederholte er es. Am dritten Tag duckte sich der Hund und rannte weg. Erst dann verstand er, was er dem Tier angetan hatte und war beschämt. Was war über ihn gekommen? Er verstand erst später, dass er seinen Ärger an jemandem ausgelassen hatte, der ihm nicht gefährlich werden konnte. Woanders konnten ihm andere sagen, was zu tun sei. Aber hier nicht. Hier hatte er das Sagen.
Der Harvard-Historiker Jill Lepore hat unlängst ein Buch über ein besonderes geschichtliches Ereignis veröffentlicht. Es war in New York im Jahre 1741, als die Stadt nur 10.000 Einwohner hatte, 8.000 weiße Bürger und 2.000 schwarze Sklaven. Damals ereigneten sich eine Reihe von Hausbränden. Etwa zur selben Zeit gab es die Sklavenaufstände in South Carolina und auf mehreren Karibik-Inseln. Da nun in New York Gruppen von Schwarzen beobachtet worden waren, die sich im Geheimen getroffen hatten, vermuteten die Behörden einen Sklavenkomplott als Ursache der Feuer. Menschen wurden eingesperrt und im Keller des Rathauses gefoltert, bis sie gestanden und weitere ver-
meintliche Verschwörer benannten. Rechtsbeistand wurde ihnen verwehrt. Ihnen wurde lediglich Strafminderung für die Nennung von angeblichen Komplizen angeboten. Viele nannten Namen. Dutzende wurden hingerichtet. Andere wurden eingesperrt, gefoltert oder nach Übersee verkauft. Die Zahl der Opfer stieg schließlich auf ungefähr 180. Es gibt Grund zur Annahme, dass die meisten Hausbrände auf einfache Ursachen, zum Beispiel auf verrußte Schornsteine, zurückzuführen waren. Ein Komplott, bei dem die Stadt niedergebrannt werden sollte, gab es nicht. Dafür aber zahlreiche unter Folter entstandene falsche Zeugenaussagen.
Ich bin überzeugt, dass wir alle froh darüber sind, dass erzwungene Eingeständnisse nicht mehr begünstigt werden. Weil erzwungene Zeugenaussagen allgemein unzuverlässig sind. Denn Menschen werden alles tun – einschließlich bewuss-
ter Falschaussagen –, um Schmerz zu vermeiden. Solche Methoden anzuwenden oder sie sogar zu autorisieren, ist ungebührlich – für unsere Opfer und uns selbst. Sie zu erniedrigen, sie zu erschrecken oder zu verletzen, um Information aus ihnen herauszubekommen oder um ihren Gehorsam zu erreichen, widerspricht unseren moralischen Werten.
Ich erinnere mich, als ich von Abu Ghraib erfuhr, und nicht glauben konnte, dass dort im Namen der Vereinigten Staaten Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Ich habe mir nicht im Traum vorstellen können, dass wir einmal über Verhörtechniken reden würden, darüber, welche erlaubt und welche als Folter verboten sein sollten. Ich bin dankbar dafür, dass es die Genfer Konvention gibt. Dieses Abkommen, das erstmals vor mehr als 150 Jahren geschlossen wurde, verbietet die Folter von Kriegsgefangenen. Ich habe das immer als einen ganz besonderen Wert angesehen, dass diese Konvention sogar Soldaten, die ausgebildet werden, einander zu töten, daran erinnert, dass uns gemeinsame menschliche Werte verbinden.
Auch Israel hat sich der Frage der Folter stellen müssen, weil es sehr häufig von Terroristen ins Visier genommen worden ist, die bereit sind, unschuldige Bürger zu ermorden und zu verstümmeln. So wurde Anfang der 90er Jahre »mäßiger physischer Druck« gegen verdächtigte Terroristen verwendet, um Information zu erhalten. Mehrere Terrorangriffe konnten tatsächlich so verhindert werden. Aber dann verbot das israelische Oberste Gericht diese Praxis. Der Richterspruch war eindeutig. Folter, ja selbst die Anwendung von mäßigem physischen Druck, wurden verboten.
Woher kommt das Verbot der Folter? Aus unserer Tradition, direkt aus der Tora, aus dem 1. Buch Moses, der Parascha Bereschit. Mehrfach ist dort erwähnt, dass der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Wir wurden »b’tsalmo«, im Ebenbild des Schöpfers, und »u’bidmuto«, in seiner Ähnlichkeit geschaffen. Deshalb ist es falsch, andere Menschen mit Verachtung zu behandeln. Deshalb ist es auch falsch, einen anderen zu erniedrigen. Es ist zudem falsch, einen anderen Menschen zu verletzen.
Die biblische Aussage ist etwas unklar, da sowohl Männer als auch Frauen als Geschöpfe beschrieben werden, die im Ebenbild Gottes geschaffen wurden. Denn das bedeutet nicht, dass Gott ein physisches Äußeres hat wie wir. Richtig ist vielmehr, dass jeder Mensch etwas Göttliches in sich trägt und widerspiegelt. Deshalb muss man jeden Einzelnen in diesem Bewusstsein behandeln. Rabbi Tanhum lehrt uns in Bereishit Rabbah (24:7): Eine andere Person zu erniedrigen, bedeutet auch den zu erniedrigen, in dessen Ebenbild er geschaffen ist, nämlich Gott.
Es kann einen Preis geben, den wir für unsere Treue zu diesem Grundsatz bezahlen müssen. Sicher wollen wir, dass unsere Regierung im Kampf gegen den Terrorismus über jedes Mittel verfügt. Diese nicht einsetzen zu können, könnte auf den Verlust unschuldigen Lebens hinauslaufen.
Die Moral unseres Landes ist Quelle einer tiefen Kraft. Es ist der Weg, auf dem wir uns über Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Hurra-Patriotismus erhoben haben. Es ist die Tatsache, dass Verhörtechniken, die im 18. Jahrhundert in New York verwandt wurden, der Vergangenheit angehören. Das zeigt die Größe unseres Landes. Wir sind eine starke Nation, weil wir eine Nation des Anstands, der Gesetze und moralischen Grundsätze sind.
1999 erkannte Israels Oberstes Gericht an, dass Demokratien einen Preis bezahlen müssen, um ihre Werte verteidigen zu können. »Demokratien müssen den Schrecken mit einer hinter dem Rücken gebundenen Hand bekämpfen«, sagte das Gericht. »Aber sie behalten die Oberhand«, genau wegen der Werte, denen sie die Treue halten, und die verletzt werden würden, wenn sie im Namen des Staates foltern würden.
Wir alle – was auch immer unsere Religion, unsere Staatsangehörigkeit, unsere ethnische Herkunft und Farbe unserer Haut ist – stammen von Adam und Eva ab. Und wir alle werden deshalb nicht nur in ihrer Art, sondern auch im Ebenbild Gottes geschaffen. Lassen Sie uns dieses Bild nicht beflecken, weder das in uns selbst noch das von denen, denen wir begegnen.

Der Autor ist Rabbiner der Gemeinde Temple Aliyah in Needham/USA.

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