von Sue Fishkoff
Es ist Freitagabend in Guangzhou – der chaotischen 10-Millionen-Einwohner-Metropole in China. Als die Sonne über der verkehrsreichen Huan-Shi-Straße untergeht, versammelt sich eine Gruppe junger Männer zum Schabbatgottesdienst, der in einer Synagoge über einem Fotoladen stattfindet. Etwa 40 Männer nehmen am Gebet teil. Anschließend versammeln sie sich mit ihren Ehefrauen und Kindern im Speisesaal zu einem koscheren Abendessen, bestehend aus Huhn, frischen Challot und einheimischem Gemüse. Zum traditionellen Eintopf gibt es Manischewitz-Wein.
Willkommen bei Chabad in Guangzhou, einem der neuesten Außenposten des Judentums in China. »Bevor ich hierher kam, trafen sich die Juden im Starbucks-Café«, sagt Rabbiner Eliyahu Rozenberg. Heute gehen Juden in die Synagoge. »Fest in Guangzhou leben ungefähr 200 Juden, von denen ich weiß.« Der aus Israel stammende Rabbiner wurde mit seiner Ehefrau und Tochter vor knapp einem Jahr nach Guangzhou entsendet, um die Chabad-Synagoge zu leiten.
Der 25jährige fühlt sich der Aufgabe gewachsen: Er war bereits Chabad-Emissär in Rußland, Weißrußland und Chile. Die viertgrößte Metropole Chinas ist die Hauptstadt der wohlhabenden Provinz Guangzhou, auf die zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes entfallen. In China lockt die boomende Wirtschaft massenhaft ausländische Investoren an, viele davon Juden, die neben dem materiellen Erfolg spirituelle Erfüllung suchen.
Zu ihnen gehört der 35jährige französische Geschäftsmann Patrick Dauvillaire. Er wohnt mit seiner Frau Gu Qin und zwei Töchtern in einem Apartmenthaus in Guangzhou. Auch für Chaim Daniel Buxbaum, einen Rechtsanwalt aus New York, der seit 1963 in Asien lebt, grenzt das an ein Wunder. »Ich lebe länger in Guangzhou als jeder andere Jude hier«, sagt der 72jährige. »Es gab hier zwar kein organisiertes religiöses Leben, doch zur Messe kamen immer mehr jüdische Geschäftsleute, und wir arrangierten Minjanim, damit sie zusammen beten konnten.« Jetzt übernimmt diese Funktion das Chabadzentrum.
Der erste Lubawitscher Rabbiner in China war Meir Ashkenazi. Zwischen 1926 und 1949 war er der geistige Führer der Ohel-Moshe-Gemeinde in Shanghai. Vor und während des Zweiten Weltkriegs bemühte sich Ashkenazi, den Tausenden europäischen Juden zu helfen.
Heute leben rund 10.000 Juden in China – nicht eingeschlossen sind darin die 5.000 jüdischen Einwohner Hongkongs. So gut wie alle sind Ausländer: Amerikaner, Israelis, Briten und Franzosen. Sie arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen. Dank einer Prognose, daß das Bruttoinlandsprodukt 2006 um zehn Prozent wachsen wird – und um acht Prozent jährlich in den darauffolgenden fünf Jahren –, strömen Tag für Tag mehr Juden nach China.
»Dies ist eine der positivsten Entwick- lungen in der jüdischen Welt«, sagt Rabbiner Mordechai Avtzon, Leiter der asiatischen Niederlassung von Chabad. Sieben Chabad-Häuser stehen der jüdischen Gemeinschaft in China derzeit zur Verfügung: zwei in Hongkong und je eins in Peking, Shanghai, Pudong, Shenzhen und Guangzhou.
»Alleine Shanghai besuchen jährlich mindestens 50.000 Juden«, sagt Rabbiner Greenberg, Leiter des örtlichen jüdischen Zentrums. Deswegen seien sie fest entschlossen, die Infrastruktur des Judentums in China zu einer von Chabad dominierten zu machen. »Wir haben ein Gleichgewicht gefunden zwischen dem Anspruch, bei jüdischen Werten keine Konzessionen zu machen, und der Toleranz gegenüber denjenigen, die es dennoch tun. Toleranz heißt aber nicht, daß wir Mischehen gutheißen.«
Das hat für Dauvillaire, der regelmäßig den Chabad-Gottesdienst in Guangzhou besucht, zu Problemen geführt. »Chabad erlaubt es nicht, daß unsere Töchter die Talmud-Tora-Schule besuchen, da ihre Mutter nicht jüdisch ist«, klagt er. »Wenn ich konvertieren will, dann deshalb, weil ich an der Religion interessiert bin«, sagt Dauvillaires Frau, deren Mutter Buddhistin und deren Vater atheistischer Kommunist war. »Aber sie riegeln sich gegen Außenseiter ab. Es ist nicht fair.« Doch selbst wenn Chabad wollte, könnte Gu Qin nicht zum Judentum konvertieren, denn es gibt in China ein Gesetz gegen das Missionieren.
Rabbiner kämpfen um die Anerkennung des Judentums als offizielle Religion. Auch wenn dies noch lange nicht bedeuten würde, daß ein Rabbiner die Konversion des chinesischen Ehepartners eines ausländischen Juden durchführen könnte. Es würde aber das Judentum mit Christentum, Islam und Buddhismus gleichsetzen. Im Moment sei aber das Hauptproblem, Wege zu finden, das Judentum innerhalb dieser vom Geld getriebenen Gesellschaft attraktiv zu machen, die Gemeinde zu erhalten und zu verstärken.