NS-Urteil

Reichstag, Rauch und Revision

von Sven Felix Kellerhoff

»Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Dieses dem einstigen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Hans Filbinger zugeschriebene Wort ist spätestens seit dem 25. August 1998 obsolet: Mit dem »Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege« wurden alle Urteile aufgehoben, die »unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933« ergangen sind. Zuständig sind die Staatsanwaltschaften; es findet keine neue Beweisaufnahme statt. Die Tatsache der Anwendung von NS-Unrecht genügt, ein Strafurteil aufzuheben.
Doch das wohl prominenteste Urteil, das das Reichsgericht während der Nazi-Herrschaft erließ, ist erst mehr als neun Jahre nach dem Erlass dieses überfälligen Gesetzes aufgehoben worden: Am 23. Dezember 1933 verhängte das damals höchste deutsche Gericht das Todesurteil gegen den niederländischen Kommunisten Marinus van der Lubbe. Jetzt, wenige Wochen vor dem 75. Jahrestag der Brandstiftung im Berliner Reichstag am 27. Februar 1933, hat die Bundesanwaltschaft diesen Schuldspruch formal aufgehoben. Das Todesurteil wurde für ungültig erklärt, weil es durch die Anwendung zweier nicht rechtsstaatsgemäßer Regelungen zustande gekommen war. Zuerst war am Tag nach der Brandstiftung und der Festnahme van der Lubbes am Tatort die »Reichstagsbrandverordnung« erlassen worden. Sie legte fest, dass mit lebenslanger Haft bewehrte Straftaten wie eben auch Brandstiftung in besonders schwerem Fall mit dem Tode bestraft werden sollten.
Doch auch nach dieser Regelung hätte Marinus van der Lubbe nicht zum Tode verurteilt werden dürfen, denn diese Strafverschärfung erfolgte erst nach der Tat. Entsprechend dem Rechtssatz »Nulla poena sine lege« waren aber rückwirkende Strafverschärfungen unzulässig. Deshalb erließ das Reichskabinett Ende März 1933 ein zusätzliches Gesetz, das einzig auf van der Lubbe zielte. Danach konnten die Strafverschärfungen aus der Reichstagsbrandverordnung auch auf Taten angewendet werden, die zwischen dem 30. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen worden waren.
Allerdings hat die Bundesanwaltschaft keine Entscheidung in der Sache getroffen. Eine Verhandlung über die seit einem Dreivierteljahrhundert umstrittene Frage der Täterschaft am Reichstagsbrand hat nicht stattgefunden. Sie ist die am heftigsten debattierte Streifrage der neueren deutschen Geschichte: War es van der Lubbe allein? Waren es die deutschen Kommunisten? Oder lag es nicht am nächsten, in den Nutznießern der Brandstiftung, den Nazis, die Schuldigen zu sehen?
Unzählige Bücher, Aufsätze und Zeitungsartikel befassen sich mit der Täterschaft am Reichstagsbrand. Dabei liegt die Lösung, wie sie sich aus den seit Anfang der 90er-Jahre im Bundesarchiv zugänglichen Ermittlungsakten der damaligen politischen Polizei ergibt, für die meisten Historiker auf der Hand: Marinus van der Lubbe war ein Einzeltäter.
Ist es eine Verharmlosung der NS-Verbrechen, auf seiner Alleintäterschaft zu bestehen? Natürlich nicht. An den Verbrechen Hitler-Deutschlands, am Holocaust, am Vernichtungskrieg der Wehrmacht, am Elend der Zwangsarbeiter ändert sich nichts, sollte eine einzelne Tat ausnahmsweise zu Unrecht den Nazis zugeschrieben worden sein. Der historischen Wahrhaftigkeit dagegen dient es, Marinus van der Lubbe und sein Geständnis ernst zu nehmen. Das Urteil gegen ihn ist aufgehoben. Aber ein Freispruch ist das nicht.

Meinung

An der Seite Israels

Trotz aller Kritik an der aktuellen Regierungspolitik: Jüdinnen und Juden stehen zum jüdischen Staat

von Josef Schuster  24.03.2023

Meinung

Gibt es ein palästinensisches Volk?

Rafael Seligmann antwortet dem israelischen Finanzminister Bezalel Smotrich

von Rafael Seligmann  23.03.2023

Wissenschaft

Oumuamua ist kein außerirdisches Raumschiff

Lange verblüffte der interstellare Besucher Astronomen: Dass Oumuamua auf seiner Bahn beschleunigte, befeuerte sogar Spekulationen über ein außerirdisches Raumschiff. Nun liefern Forscher eine Erklärung

 22.03.2023

FU Berlin

Knochenfunde werden beerdigt

Ein Teil der Gebeine könnte von Opfern nationalsozialistischer Verbrechen stammen

 22.03.2023

Italien

Polizei: Mann mit »Hitlerson«-Trikot bei Rom-Derby ist Deutscher

Aufnahmen der Überwachungskameras führten die Behörden zum Täter

 22.03.2023

Italien

Empörung nach antisemitischen Vorfällen bei Römer Derby

Der Verein Lazio Rom verurteilte »jegliche diskriminierende, rassistische oder antisemitischen Kundgebungen«

 21.03.2023

CDU

Friedrich Merz reist nach Israel

Der deutsche Oppositionsführer wird Ministerpräsident Netanjahu treffen

 17.03.2023

Hessen

Verfassungsschützer warnt vor »trügerischer Ruhe« bei Islamismus

Seit Ende des vergangenen Jahres sei eine »verstärkte Agitation« zu beobachten, sagt Bernd Neumann

 16.03.2023

Initiative

»Internationale Wochen gegen Rassismus« ab Montag

Einsatz gegen Rassismus, aber auch Antisemitismus und andere Formen des Menschenhasses soll sichtbar werden

 16.03.2023