Gemeinden

Puschkin statt Tora

von Constance Baumgart

In den vergangenen 17 Jahren haben sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland rasant gewandelt. Rund 100.000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nahmen sie als neue Mitglieder auf, unterstützen und integrierten sie. Die jüdische Gemeinschaft wuchs bis um das Fünffache. Mancherorts entstanden Gemeinden überhaupt erst wieder neu. Doch das deutsch-russische Miteinander stellt alle Beteiligten auch vor große Herausforderungen. Die zumeist säkularen Neuankömmlinge haben eine andere Vorstellung von Sinn und Funktion einer jüdischen Gemeinde und vertreten selbstbewusst ihren Standpunkt. Manch langjähriges Gemeindemitglied fühlt sich dabei fremd und hinausgedrängt – nicht zuletzt, weil viele Vertreter in Repräsentanz oder Vorstand inzwischen besser Russisch als Deutsch sprechen.
Wächst trotz allem auch hier zusammen, was zusammengehört? Die Frage liegt nahe, so nahe, dass sich jetzt auch eine hochkarätig besetzte Tagung in Frankfurt am Main mit ihr beschäftigte. Unter dem Titel »Eine neue jüdische Gemeinschaft?« untersuchten Soziologen, Judaisten und Historiker das Phänomen der russisch-jüdischen Zuwanderung. Doch bildet eine solche Untersuchung die Lebenswirklichkeit ab?
»Im gelobten Land?« ist eines dieser Forschungsprojekte, das darauf Anwort geben sollte. Die Untersuchung, die die Soziologin Karen Körber von der Fachhochschule Erfurt vorstellte wurde vom Zentralrat der Juden in Deutschland gefördert und zeigt anschaulich die Strukturen und Konflikte. Deutlich wird zum Beispiel, welche Bilder und Eindrücke vom jeweils anderen entstanden sind. In den Augen nicht weniger Alteingesessener, so Körber, betrachten russischsprachige Mitglieder die Gemeinde hauptsächlich als soziale Einrichtung, als Jobbörse oder »Kulturverein«, während das Interesse an Religion wenig ausgeprägt sei. Außerdem meinen sie eine gewisse Siegermentalität wahrzunehmen, die sich daraus speist, dass die Siegermacht Sowjetunion Deutschland vom Nationalsozialismus befreit hat. Russischsprachige Gemeindemitglieder bemängeln fehlendes kulturelles Interesse der Deutschen. Außerdem erhöben die langjährigen Gemeindemitglieder einen Führungs- und Integrationsanspruch, der im Widerspruch zu dem zahlenmäßigen Verhältnis stehe. Ermittelt wurden diese Erkenntnisse aus Interviews mit Vorständen, Mitarbeitern und Gemeindemitgliedern, die 2006 durchgeführt wurden. Dabei wählte Körber mit Köln und Frankfurt am Main zwei der größeren, mit Bremen und Nürnberg zwei mittlere und schließlich mit Erfurt und Oldenburg zwei kleine Gemeinden aus. Trotz ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen und Infrastruktur, waren die Ergebnisse doch überall nahezu gleich.
Dass trotz Literaturzirkel und Veteranenclub die jüdischen Gemeinden auch zukünftig religiöse Institutionen bleiben müssen, darüber bestand bei der abendlichen Podiumsdiskussion breite Übereinstimmung. Das Podium war mit Micha Brumlik, Pädagoge und ehemaliger Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, dem Vizepräsidenten des Zentralrates Dieter Graumann, der Schriftstellerin Lena Gorelik und dem Rechtswissenschaftler und Publizisten Sergey Lagodinsky sowohl prominent als auch paritätisch deutsch-russisch besetzt. Hier konzentrierte sich die Diskussion vor allem auf zwei Themen: der Umgang mit den nicht-jüdischen Familienmitgliedern und die Rolle der Sprache.
Dass nichtjüdische Familienmitglieder nur begrenzten Zugang zur Gemeinde haben, stößt bei vielen Zuwanderern auf Unverständnis. Lagodinsky etwa plädierte für eine »assoziierte Mitgliedschaft«, die nicht-halachischen Juden die Türen weiter öffnen könnte. Seine Forderung stieß bei Dieter Graumann zwar auf offene Ohren, doch sie ließe sich bei den religiösen Instanzen nicht durchsetzen, sagte der Vizepräsident.
Im Gegensatz dazu dürfte es sich bei der derzeitigen Dominanz der russischen Sprache um ein vorübergehendes Phänomen handeln, da die junge Generation bereits fließend Deutsch spricht oder sogar schon ganz mit dieser Sprache aufgewachsen ist. Dennoch stelle die zweisprachige Gegenwart die Gemeinden heute noch vor große Herausforderungen. Sergey Lagodinsky sieht hierin weniger ein Problem. In den Gemeinden müsse man die Sprache beherrschen, die die Mitglieder verstehen, und diese seien nun einmal zu 90 Prozent russischsprachig (vgl. Jüdische Allgemeine vom 13. November). Für die Schriftstellerin Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren und seit 1991 in Deutschland, ist die Verkehrssprache ganz eindeutig Deutsch. Die Landessprache habe in den jüdischen Gemeinden Verständigungssprache zu sein.
Gorelik kritisierte vielmehr, den russischsprachigen Juden werde zu wenig Respekt entgegengebracht. Eine Kritik, die Dieter Graumann wiederum betroffen machte. Der Zuzug der russischsprachigen Juden habe doch schließlich die deutschen Gemeinden in vielerlei Hinsicht bereichert.
Im Resümee sagten nicht alle der Gemeinschaft eine rosige Zukunft voraus. Sie prognostizierten Mitgliederschwund oder einen Wandel der Gemeindestrukturen. »Trotz allem ist die Zuwanderung eine große Erfolgsgeschichte«, hielt Graumann den Zweiflern entgegen. Nur die Zuwanderung ermögliche eine jüdische Zukunft in Deutschland. Und er sei sich gewiss: »Die Zuwanderer von heute werden die Alteingesessenen von morgen sein.«

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