Deutschland-Euphorie

Offen für die Welt

von Micha Brumlik

Auch Normalität kann ungewöhnlich sein. Aber ein Anfangsverdacht ist gegeben, und es fällt schwer, den eigenen Argwohn zu beschwichtigen. Die Wohnbevölkerung der deutschen Städte jedenfalls feiert in Schwarz-Rot-Gold, weshalb sich Politik wie Feuilleton bemüßigt sehen, die Freude zu bewerten. Während der Bundespräsident einen weiteren Fortschritt in der Normalisierung begrüßt und man sich fragt, wie steigerungsfähig der Begriff »normal« eigentlich ist, gibt ein grüner Spitzenpolitiker die Parole vom »Nationalismus mit menschlichem Antlitz« aus. Der Bundesinnenminister hingegen gibt zu Protokoll, daß die Party (nur?) beweise, daß die Deutschen feiern und sich freuen können.
Nimmt man die Party wirklich ernst, was möglicherweise ebenso sinnvoll ist, wie eine Nacht in der Disco für das Ganze des Lebens zu nehmen, läßt sich zunächst die längst überfällige Umwandlung Deutschlands von der Herkunfts- zur Willensnation beobachten. Wenn sich also deutsche Staatsangehörige, die der Umgangssprache nicht immer mächtig sind, schwarz-rot-goldene Fahnen um die Schultern hängen und sich die weiblichen Fans jene Farben, die einst das Lützowsche Korps in seinem Feldzug gegen die napoleonische Besatzung trug wie Indianerfarben auf die glühenden Wangen schminken, dann ist Entwarnung angesagt. Hier vollzieht das feiernde Volk endlich nach, was Ökonomie, Recht und Politik längst gerichtet haben. Menschliches Antlitz hin oder her: Einem deutschen Nationalismus (und nicht nur ihm) ist in Europa objektiv der Boden unter den Füßen entzogen. Was den Nationalismus einst so brandgefährlich machte – eine weitgehende Deckungsgleichheit der Interessen der politischen Eliten, national gebundener Kapitale, ideologisch verwirrter Künstler oder Intellektueller und des Militärapparates eines souveränen Staats – ist mit ökonomischer Glo- balisierung, europäischer Integration und übergeordneten Militärbündnissen wie der NATO Vergangenheit.
Diese Tatsachen ziehen die Deutschlandkritiker von links (die sich selbst so nennenden Antideutschen) ebenso wenig in Rechnung wie die Nostalgiker eines »gesunden Nationalbewußtseins«. Während sich die Antideutschen freuen, wenn in einem Stadion mit 70.000 Zuschauern ein schwarzhäutiger Mensch eine israelische Fahne schwenkt (vgl. S. 11) und sich ansonsten wie alle anderen vor den Fernsehapparaten versammeln, um die Spiele mit »deutschlandkritischen« Kommentaren zu begleiten, machen sich die »Prodeutschen« ernsthafte Sorgen. So hat etwa der Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB), der ehemalige CDU-Politiker Theo Zwanziger, allen Ernstes Alarm geschlagen, weil die Bildungsgewerkschaft GEW eine mißmutige, in der Sache gleichwohl korrekte Broschüre verteilt, in der völlig wahrheitsgetreu darauf hingewiesen wird, daß die erste Strophe des Deutschlandliedes nicht zufällig von den Nationalsozialisten mißbraucht werden konnte und der Dichter des Textes, Hoffmann von Fallersleben, ein Antisemit war.
Die Aufgeregtheit der Konservativen bestätigt die Paranoia der Antideutschen, während die ätzenden Einlassungen der Antideutschen die Prodeutschen in dem Irrtum bestätigen, an ihrer Vorstellung von Nation sei noch irgendetwas zu retten. In Wahrheit ist das hochexplosive Gebräu des Nationalismus längst in seine Komponenten zerfallen. Hier ein geschärftes Gefühl für Verfassung, Bürger- und Menschenrechte, dort die Meinung, die ethnische oder biologische Herkunft sei von irgendeinem politischen Wert. Genauer: Was einmal Nationalismus war, zerfällt in (Verfassungs)patriotismus hier und Rassismus dort.
Bedenklich ist indes, daß sich der deutsche Fußballpräsident als erster berufen fühlte, gegen die Kritik am Deutschlandlied einzuschreiten. Das ist nicht deshalb bedenklich, weil sich hier ein Sportfunktionär als nationaler Gralshüter aufspielt, sondern weil er (wie seine Gegner von links) dem eigenen Volk nicht traut und offensichtlich Angst hat, daß eine historische Analyse der deutschen Hymne, die die wenigsten Fans auch nur ansatzweise verstehen würden, dem Volk die Partylaune verderben könnte.
Wenn diese WM in Deutschland etwas ist, dann ein Phänomen der Globalisierung, eines die Weltgesellschaft erregenden Medienereignisses, das von kommerziellen Ballkünstlern, die in ihrem alltäg- lichen Unterhaltungsberuf längst jede nationale Bindung entschlossen aufgegeben haben, im Einklang mit werbenden Medien virtuos inszeniert wird. In der Arena der Weltgesellschaft aber werden die Nationen bald jene Funktion einnehmen, die die nationalen Farben auf den Wangen der Fans haben: bunter, austauschbarer und abwaschbarer Schmuck. Wenn das Ganze überhaupt etwas mit Politik zu tun hat, dann doch so, daß die Party den Abschied von der Nation und den Aufbruch in die Weltgesellschaft einläutet.

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