Krieg im Norden

Notgemeinschaft

von Pierre Heumann

Plötzlich gibt es keine Russen, Sefardim, Äthiopier, Neueinwanderer oder Arme, sondern nur noch Israelis. Differenzen, die sonst das Volk spalten, sind wie weggeblasen. Die Bewohner aus Galiläa, die im Zentrum des Landes Schutz vor KatjuschaRaketen suchen, profitieren dort von Vergünstigungen in Freizeitzentren, erhalten Rabatt im Kino, werden mitunter sogar zum kostenlosen Wohnen eingeladen. Die Flüchtlinge werden, so gut es eben geht, verwöhnt. Und wer es sich nicht leisten kann, Naharia oder Kiryat Schmone zu verlassen und seit drei Wochen im Bunker ausharrt, erhält aufmunternde Besuche aus Tel Aviv: Von Sängern wie David Broza, der seine Songs in Schutzräumen vorträgt, ohne eine Gage zu erwarten, von Friseuren, die unter dem Krach einfallender Katjuscha-Raketen kostenlos ihre Dienste anbieten, oder von Sozialarbeitern, die selbstlos von Panik befallene Mitbürger betreuen.
Auch die Regierung läßt sich nicht lumpen. Sie hat ein Finanzpaket geschnürt, um Verluste im Norden zu kompensieren. Hoteliers, deren Zimmer leer sind, Landwirte, die ihre Ernte nicht einbringen können, und die 100.000 Angestellten, die zu Zwangsferien verdammt sind, sollen entschädigt werden.
Die wirtschaftlichen Verluste im Norden sind enorm. Jede vierte Fabrik im Gefahrenbereich der Raketen ist geschlossen und jede dritte arbeitet nur teilweise, was bisher einen Schaden von insgesamt rund einer halben Milliarde Euro verursacht hat. Die Kriegsfolgen der ersten drei Wochen schlagen mit bis zu vier Milliarden Euro zu Buche, schätzen Volkswirte. Und je länger der Krieg dauert, desto höher werden die Verluste.
Auch wenn die Nation wie selbstverständlich zusammenrückt und sich solidarisch bemüht, dem Norden beizustehen –der Krieg kann die Risse in der israelischen Gesellschaft nicht vertuschen. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu und läßt sich gerade in diesen Tagen noch deutlicher erkennen als sonst.
Der Krieg im Norden trifft nämlich jene besonders hart, die in den vergangenen Jahren unter der neoliberalen Wirtschaftspolitik gelitten haben. Auf der Verliererseite stehen diejenigen, die in den lange vernachlässigten Bunkern unter schwierigsten Bedingungen leben, zusammengepfercht auf engstem Raum Schutz vor den Katjuscha-Raketen suchen müssen. Als fast schon privilegiert können sich auf der anderen Seite diejenigen 250.000 Israelis betrachten, die genügend Mittel haben, um in Tel Aviv, Eilat oder Paris der Katjuschagefahr zu entgehen. Allein in Eilat sollen sich an die 100.000 Bewohner aus dem Krisengebiet aufhalten.
Inzwischen verschlechtert sich die Stimmung in den Bunkern von Kiryat Schmone oder Schlomi mit jedem Tag. Und im Land macht sich ein allgemeines Unbehagen breit. Es ist die Angst der Israelis, ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit zu verlieren. Das, was Israelis derzeit erleben, ist für viele eine völlig neue Erfahrung: Daß nämlich eine kleine Guerillatruppe ihrer modern ausgerüsteten Armee nicht nur Widerstand leisten, sondern auch schmerzliche Verluste zufügen kann. »Die wichtigsten Ziele sind noch nicht erreicht, obwohl die israelische Armee seit bald drei Wochen gegen die Hisbollah kämpft«, sagt der Militärexperte der Tageszeitung Haaretz, Zeev Schiff. Für die meisten Israelis ist das ein Schock.
Ein Schock, der politische Folgen haben wird. In Jerusalem war man ursprünglich davon ausgegangen, die Hisbollah in zwei Wochen besiegen und deren Waffenlager zerstören zu können. Sollte sich am Ende herausstellen, daß der Krieg die Katjuschagefahr nicht gebannt hat, wird das rechte Spektrum in der israelischen Politik zulegen. Premier Ehud Olmert dürfte dann Mühe haben, seinen Rückzugsplan aus Teilen der Westbank durchzubringen. Damit wäre sein Programm, mit dem er den Wahlkampf bestritt, obsolet, und die Zukunft seiner Partei in Gefahr.
Der Ausgang des Kriegs wird auch sozialpolitische Konsequenzen haben. Wenn sich der Pulverdampf einmal verzogen hat, werden die Bewohner des Nordens ihre Rechnung präsentieren. Gerade auf die wirtschaftlich Schwachen warten da freilich schlechte Nachrichten. Denn die Regierung muß neue Prioritäten setzen. Statt wie geplant das Sozialbudget zu erhöhen und das Wachstum bei den Verteidigungsausgaben etwas zurückzuschrauben, wird die Armee mehr Geld als vorgesehen beanspruchen. Das Arsenal muß neu aufgestockt, die Konsequenzen aus dem Krieg studiert und Anpassungen finanziert werden. Es wird unmöglich sein, alle Forderungen, mit denen der Finanzminister konfrontiert sein wird, gleichzeitig zu berücksichtigen. Zu den Kriegskosten, meint Haaretz-Kolumnist Nehamia Shtrasler, gehöre eben auch, daß Gelder im Sozialhaushalt fehlen werden. Ausgaben für die soziale Wohlfahrt, Gesundheit und Erziehung werden geringer ausfallen als ursprünglich vorgesehen war. Zerbröckeln wird dann der Zusammenhalt, der die letzten drei Wochen gekennzeichnet hat, und die Bereitschaft zur Aufopferung wird sich in Luft auflösen. Übrig bleiben wird höchstens noch die Erinnerung an die Zeit, als alle internen Konflikte vergessen waren.

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