von Lisa Borgemeister
Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur – ein eigener Forschungsgegenstand? Eines stellt die gleichnamige Ausstellung gleich zu Beginn klar: »Jüdische Mathematiker betrieben Mathematik in derselben Weise wie ihre christlichen Kollegen, bauten auf den gleichen Leistungen der griechischen und arabischen Denker auf.« Das klingt logisch. Die Wanderausstellung beweist zudem, dass jüdische Mathematiker im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik eine tragende Rolle spielten. Und vor allem, dass es in den Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten große Unterschiede gab.
Zwar waren Juden per Gesetz ab 1812 und 1848 gleichberechtigt, jedoch nur de jure, nicht de facto. So wurden jüdische Wissenschaftler etwa nicht gleichberechtigt als Professoren an Universitäten berufen. Das preußische »Juden-Edikt« aus dem Jahr 1812 versprach Juden und ihren Familien »gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten«. Dort wurde ihnen in Paragraf 8 auch zugestanden, akademische Lehr-, Schul- und Gemeindeämter zu verwalten. Schon zehn Jahre später kam jedoch die Einschränkung: »Wegen der bei der Ausführung sich zeigenden Missverhältnisse« wurde Paragraf 8 wieder aufgehoben. Auch nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 galt zwar die rechtliche Gleichstellung – dennoch blieben Diskriminierungen bestehen. Ähnlich war es in der Weimarer Republik.
Nicht nur beim Besetzen von Lehrstühlen, auch beim Studium gab es Einschränkungen. So war Robert Remak (1815-1865) der erste Jude, dem 1847 an der Me- dizinischen Fakultät der Berliner Universität die Habilitation erlaubt wurde. Und dies auch erst, nachdem er beim preußischen König Protest eingelegt hatte.
Die Wanderausstellung »Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur« zeigt viele solcher Beispiele und Schicksale. In aufwendiger Re- cherche hat die Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte der Frankfurter Goethe-Universität, wo die Ausstellung zuerst gezeigt wird, die Daten und Lebenswege jü- discher Mathematiker zusammengestellt und ausgewertet. Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht. Präsentiert werden die Forschungsergebnisse an acht Stationen – beginnend mit den Rahmenbedingungen jüdischen akademischen Lebens im deutschsprachigen Raum ab dem 19. Jahrhundert und endend mit der Verfolgung und Vertreibung ab 1933. Zudem gibt es eine örtliche Sortierung, denn jüdische Mathematiker wirkten nicht an allen Universitäten gleichermaßen.
Göttingen galt vor allem während der Weimarer Republik als liberal und war das Mekka der Mathematiker und Physiker. An der Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte sich die Göttinger Mathematik gar zu einem international höchst angesehenen Zentrum. Dies geschah – so betonen die Lehrtexte der Schautafeln – unter maßgeblicher Wirkung von jüdischen Mathematikern und Naturwissenschaftlern.
In Frankfurt kam es vor allem nach dem Ersten Weltkrieg zu einer quer durch alle wissenschaftlichen Disziplinen gehenden Blüte deutsch-jüdischen akademischen Lebens. 1933 war jeder Dritte der Lehrenden an der Universität jüdisch.
In Berlin, das neben Breslau schon früh als Zentrum jüdischen Lebens galt, war der Anteil jüdischer Studenten durchweg vergleichsweise hoch. Aufgrund des andauernden Antisemitismus gab es im Kaiserreich jedoch nur wenige Habilitationen jüdischer Mathematiker an der Berliner Universität.
Hinweise auf solch antisemitisch begründete Ablehnungen sind in amtlichen Dokumenten nur selten zu finden. Aufschlussreicher ist da die Analyse privater Kommunikation, welche die Ausstellung exemplarisch für einige Fälle aufbereitet hat. So findet der Besucher etwa Briefe von Albert Einstein, der sich von Berlin aus für die jüdische Mathematikerin Emmy Noether einsetzte, der in Göttingen lange die Habilitation und die Lehrbefugnis verwehrt wurden. Auch andere Briefe zeigen, dass die religiöse Zugehörigkeit bei der Besetzung von Lehrstühlen oft ausschlaggebend war.
Mit der Situation nach der Machtergreifung der Nazis beschäftigen sich die letzten drei Stationen der Ausstellung. Jüdische Mathematiker verloren zunächst ihre Arbeit und mussten dann um ihr Leben fürchten. Vielen gelang die Flucht ins Ausland. Andere wurden deportiert oder begingen Selbstmord. Mindestens 15 jüdische Mathematiker kamen so zu Tode. Offen bleibt die Frage nach den Reaktionen nicht-jüdischer Mathematiker in Deutschland. Wer half den jüdischen Kollegen und unterstützte die Verfolgten? Und wer setzte sich ab Mai 1945 für ihre Rückkehr ein?
Die Wanderausstellung kann und will keine allumfassenden Antworten geben. Doch mit der Bearbeitung des Themas ist ein bedeutender Schritt getan, die Lücke in der Geschichte der Mathematik des 19. und 20. Jahrhunderts zu schließen. Es ist beeindruckend, wie viele amtliche Dokumente, Fotos, Briefe und andere historische Papiere bereits zusammengetragen wurden. Schade nur, dass die Präsentation einen geduldigen Ausstellungsbesucher voraussetzt: Die Forschungsergebnisse sind recht schmucklos und fast ausschließlich auf Schautafeln aneinandergereiht. Der geplante Ausstellungskatalog war zur Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt noch in Druck. Die Veranstalter versprechen jedoch für den Herbst eine umfassende deutsch-englische Internetfassung, die künftig auch weitere Exponate und Informationen über jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur aufnehmen soll.
Weitere Stationen der Ausstellung: Göttingen, Hamburg, Erlangen, Bonn, Magdeburg und München. Die Termine sind bislang nur vorläufig geplant. Aktuelle Informationen im Internet: www.juedische-mathematiker.de