bundestagswahl

Merkels Räson

In den Augen konservativer Katholiken war es ein ungeheuerlicher Frevel, als Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang dieses Jahres zum Verhalten des Papstes in eher umständlicher Formulierung Stellung nahm. Es sei eine »Grundsatzfrage, wenn durch eine Entscheidung des Vatikans der Eindruck entsteht, dass es die Leugnung des Holocaust geben könnte, dass es um grundsätzliche Fragen des Umgangs mit dem Judentum geht. Deshalb darf das nicht ohne Fol- gen im Raum stehen bleiben.« Was im Klartext bedeutete: Die Entscheidung Benedikts XVI., die Exkommunikation der Pius-Bruderschaft rückgängig zu machen, sei dazu geeignet, Holocaust-Leugner wie den Pius-Bischof Richard Williamson hoffähig zu machen. Es könne auch den Eindruck erwecken, ausgerechnet ein deutscher Papst unterhöhle die Prinzipien des Zweiten Vatikanischen Konzils, dessen Botschaft von den Pius-Brüdern negiert wird.
Dass die (protestantische) Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union ein solch kritisches Statement über das Oberhaupt der katholischen Kirche abgeben könnte, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Und es wäre auch heute noch kaum vorstellbar, dass sich die christlich-demokratische Bundeskanzlerin in dieser Weise zu Angelegenheiten der katholischen Kirche äußern würde, wenn es da- bei um eine andere Frage ginge als die des Holocaust und des Antisemitismus.
Denn Merkel sieht sich in dieser Frage als deutsche Regierungschefin herausgefordert: Nicht nur die Verteidigung des Existenzrechts Israels, sondern auch das unzweideutige Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus betrachtet sie als »Staatsräson« der Bundesrepublik. Dies dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass sie eine öffentliche Brüskierung des Papstes und damit zugleich eines Teils der katholisch-konservativen Stammwählerschaft der CDU in Kauf genommen hat, um in diesem Punkt keine Zweifel an ihrem Standpunkt aufkommen zu lassen.
Der Gegenwind, der ihr aus dieser Richtung ins Gesicht schlug, hielt sich freilich in Grenzen. Die meisten innerparteilichen Kritiker beschränkten sich darauf, ihrer Entrüstung über das Sakrileg einer öffentlichen Papstschelte eher verklausuliert oder nur hinter vorgehaltener Hand Luft zu machen. Zu unantastbar ist derzeit die Position der Kanzlerin in der Union, zu groß ihre Beliebtheit in der Bevölkerung Daher gibt es in den Reihen der CDU die Furcht, interne Kritik an ihr könnte der Partei Sympathiewerte kosten.
Merkels konsequentes Engagement im Verhältnis zu Israel und zu den Juden entspringt zweifellos einem Kern ihrer politischen und moralischen Überzeugungen, deren angebliches Fehlen in anderen Bereichen der Politik häufig bemängelt wird. Es entspricht jedoch ebenso einem strategischen Kalkül: Die Union als moderne, fortschrittliche Volkspartei der Mitte auch für jene bürgerlich-liberalen und sozial-progessiven Wählerschichten attraktiv zu machen, denen der nationalkonservative Hang zur Geschichtsrelativierung als miefig und gestrig gilt. Zu diesem Modernisierungskonzept gehört es, die Union von dem Verdacht zu befreien, sie habe die Annerkenntnis des ganzen Ausmaßes deutscher Schuld nie wirklich verinnerlicht und latent antisemitische Affekte in den eigenen Reihen nicht konsequent bekämpft.
Tatsächlich hatten vergangenheitspolitische Ressentiments über Jahrzehnte hinweg unterschwellig große Teile des Unionsmilieus bestimmt. Sie äußerten sich sporadisch in verbalen Entgleisungen von Unionspolitikern, meist aus der zweiten oder dritten Reihe. Solche Ausfälle variierten den Gedanken, die Bundesrepublik Deutschland sei durch die NS-Vergangenheit auf Dauer von »den Juden« und den westlichen Siegermächten erpressbar geworden und werde daher fortgesetzt zum »Zahlmeister« erniedrigt. Als Dauerbrenner leitete sich daraus der Wunsch ab, es möge unter das Abrechnen deutscher Schuld endlich einmal ein »Schlusstrich« gezogen werden.
Die Parteiführung hatte solche Ausfälle regelmäßig entweder heruntergespielt oder, nicht zuletzt mit Rücksicht auf das deutsche Image im Ausland, einkassieren müssen. Mit der einen oder anderen wachsweichen Entschuldigung des Missetäters oder seiner Beteuerung, er sei missverstanden worden, hatten solche Episoden in der Regel ihr Bewenden. Nicht so aber im Fall des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, der sich in einer Rede 2003 auf offen antisemitische Quellen berufen und über die Frage schwadroniert hatte, ob man die Juden als ein »Tätervolk« klassifizieren könne. Das nutzte Merkel, um eine rote Linie gegenüber rechtsnationalistischen Ressentiments innerhalb der Union zu markieren. Trotz wütender und zum Teil wüster interner Proteste der Parteibasis zog die CDU-Führung den Ausschluss Hohmanns aus Fraktion und Partei durch.
Ein zweites erinnerungspolitisches Zeichen, das Merkel gesetzt hat, war die Zurechtweisung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettin- ger. Der hatte in seiner Grabrede für Hans Filbinger, der wegen seiner Vergangenheit als NS-Marinerichter in den achtziger Jahren als Ministerpräsident Baden-Württembergs hatte zurücktreten müssen, zum Gegner des Nationalsozialismus stilisiert. Die Maßregelung Oettingers war zugleich eine machtpolitische Demonstration der Kanzlerin und Parteichefin gegenüber den ambitionierten Union-Landeschefs.
Die Frage ist, wie nachhaltig sich die neue vergangenheitspolitische Akkuratesse der Ära Merkel tatsächlich im Kernbewusstsein der Unionsparteien festgesetzt hat. In Fragen wie dem Zentrum gegen Vertreibung oder einer adäquaten Erinnerungskultur für die Opfer des DDR-Kommunismus geraten CDU/CSU-Politiker immer wieder in den Verruf, sie wollten per Gleichsetzung mit anderen Verbrechen die Einmaligkeit der Schoa relativieren. Mit einer oder einem in diesen Fragen weniger sensiblen Vorsitzenden als Angela Merkel könnten sich solche Tendenzen innerhalb der Union durchaus wieder verstärken. Der Erfahrungshintergrund, aus dem sich der besondere Sinn Merkels für die Bedeutung erinnerungspolitischer Proportionen speist, ist für die Unionsführung keineswegs repräsentativ.
Nicht nur die Last der NS-Judenvernichtung selbst, sondern auch der Umgang damit im SED-Staat prägt die Haltung der ehemaligen DDR-Bürgerin Merkel zu den heutigen jüdischen Gemeinden und zu Israel. Der jüdische Staat war von der DDR-Ideologie als »zionistisch-imperialistisch« gebrandmarkt worden. Seine arabischen Todfeinde wurden von der SED-Führung politisch und militärisch gepäppelt. Ein klares Bekenntnis zu Israel ist in Merkels Verständnis also in doppelter Hinsicht zentral für einen angemessenen Umgang mit deutscher Vergangenheit.
Die Tradition, in die sie sich dabei stellt, ist aber nicht so eindeutig, wie sie es in ihren Reden gerne hinstellt. Das gilt namentlich für die Position Konrad Adenauers, auf dessen Pionierleistung in den deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Beziehungen sie sich regelmäßig beruft. Bei dem konservativ-katholischen NS-Gegner Adenau- er hatte sich in der Frage der Wiedergutmachung und der »Aussöhnung« mit dem Judentum ein persönlich empfundenes Gefühl moralischer Verpflichtung angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus mit einer bemerkenswert offen ausgesprochenen national-egoistischen Nützlichkeitserwägung verbunden.

eintrittskarte Für Adenauer stand außer Zweifel, dass seine Politik der Westintegration der Bundesrepublik nur gelingen könne, wenn das neue demokratische Deutschland vor aller Welt ein klares Zeichen der Distanzierung von der NS-Vergangenheit setzt. Insbesondere eine deutliche Geste des Bekenntnisses der Schuld gegenüber den Juden erschien ihm als eine Art Eintrittsbillett in die Wertegemeinschaft des Westens und als die conditio sine qua non für die Wiederaufnahme der Bundesrepublik in den Kreis der »geachteten Völker«. Doch in seiner Argumentation ging Adenauer sogar noch einen Schritt weiter. Um seine Landsleute von der Unausweichlichkeit von Wiedergutmachungszahlungen zu überzeugen, griff er auf Anklänge an das antisemitische Klischee vom unheimlichen Einfluss des Weltjudentums zurück. »Die Macht der Juden, auch heute noch«, sagte er in einem Fernseh-Interview, »insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen. Und daher habe ich (…) meine ganze Kraft drangesetzt, so gut es ging, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk.« Der Altkanzler legte den Grundstein für jene ambivalente Haltung großer Teile der demokratischen Rechten der Bundesrepublik, die sich dem Existenzrecht Israels bis hin zur proisraelischen Emphase (besonders im Sechstagekrieg 1967) verpflichtet fühlten, das fortgesetzte jüdische Insistieren auf deutscher Schuld jedoch mit la- tentem Groll betrachteten.
Ein entscheidender Umschwung trat erst mit Helmut Kohl in den achtziger Jahren ein. Er war zwar zunächst wegen tollpatschiger Aussagen (»Gnade der späten Geburt«) und mehrdeutiger Symbolgesten (Besuch mit US-Präsident Reagan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg 1986, auf der auch Angehörige der Waffen-SS begraben liegen) in die Kritik geraten. Dann aber unterstützte Kohl die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Ein Paradigmenwechsel: Der Mainstream des deutschen Konservatismus hatte nun verstan- den, dass das deutsche Bekenntnis zur Aufarbeitung der Vergangenheit eine Art positives Markenzeichen für die Bundesrepublik geworden war. Nun galt es im deut- schen Interesse, das Image als eine Art Aufarbeitungs-Weltmeister auf der internationalen Bühne zu nutzen.
Diese Veränderung dürfte der tiefere Grund für das Schrumpfen des Einflusses nationalkonservativer Kreise alter Schule in der Union sein. Und es ist wohl unwahrscheinlich, dass sich das in der Ära nach Merkel noch einmal entscheidend ändern könnte. Die erinerungspolitischen rote Linie, die die Kanzlerin gezogen hat, wird kaum mehr auszulöschen sein.

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