Töchter und Söhne

Menschens Kinder

von Rabbiner Avichai Apel

Kinder sind Freude, Kinder sind Segen. Dieser Text ist Teil eines bekannten israelischen Liedes, das Kinderkriegen und Kinderliebe fordert. In der Vergangenheit galten Familien mit vielen Kindern als »besonders gesegnet«. Heute spricht man –mitunter gar leicht abfällig – von »Familien mit vielen Kindern«. Die semantische Änderung signalisiert zweifellos einen neuen Trend in unserer Einstellung zum Kinderkriegen.
In der kanadischen Großstadt Vancouver wurde 1984 die Organisation www.nokidding.net gegründet, die inzwischen in vielen Ländern vertreten ist, auch in Israel. Sie vertritt Paare, die aus unterschiedlichen Gründen kinderlos sind. Bei den Treffen gibt es nur ein Gesprächsthema: Kinder. Ziel dieser Organisation besteht aber nicht da- rin, Paaren zu helfen, sondern No- kidding möchte Menschen zusam- menbringen, die keinen Kinderwunsch haben.
Betrachtet man die globale Statistik über die Anzahl von Kindern pro Familie, dann kann man sehen, dass es in der westlichen Welt im Durchschnitt 1,5 Kinder pro Familie gibt. Nur in Amerika ist diese Marke noch nicht erreicht worden. Dort haben die Familien im Durchschnitt zwei Kinder. Demgegenüber gibt es in der arabischen Welt und in Afrika im Durchschnitt zwischen fünf und 7,6 Kinder pro Familie. Kann man da behaupten, dass Kinder in der westlichen Welt als etwas Erfreuliches gelten?
Haben sich die Zeiten derart geändert, dass Kinder heute als Last gesehen werden, die man am besten reduzieren sollte? Moderne Paare müssen rund um die Uhr arbeiten, Karriere aufbauen, Vermögen anhäufen. Und die Kinder sollen mehr kriegen, als das, was wir von unseren Eltern bekamen. Deshalb entscheiden sich viele Menschen dazu, zuerst die Karriere aufzubauen. Falls danach noch Zeit ist, denken sie darüber nach, Kinder zu bekommen. Doch manche haben es sich in der Zwischenzeit anders überlegt. Denn ohne Kinder bleibt mehr Zeit zum Reisen, zum Lesen und für die individuelle Entwicklung.
Während immer mehr Paare auf Kinder verzichten, nehmen andere für Fruchtbarkeitstherapien lange Wartezeiten in Kauf. Diese Paare bringen sich wegen ihres Kinderwunsches auf einen körperlichen und seelischen Leidensweg. Ein gutes Beispiel für eine Frau, die alles dafür tat, um ein Kind auf die Welt zu bringen, wird am Anfang des 1. Buches Samuel geschildert. Der Prophet erzählt von den Anstrengungen Hannas, die später die Mutter des Propheten Samuel wurde, demjenigen, der Saul zum König von Israel gekrönt hat und sogar David zum König ernannt hat. Hanna war unfruchtbar, genauso wie alle Matriarchinnen, Sara, Riwka und Rachel, die auch Schwierigkeiten hatten, Kinder zu kriegen. Aber Hanna akzeptiert ihr Schicksal nicht. Sie sammelt all ihre Kräfte, um ein Kind zu bekommen. Sie ist seelisch so am Ende und strengt sich so an, dass Eli, der Priester denkt, sie sei betrunken.
Genauso wie bei Hanna war es auch bei Rachel. Ihre Schwester Lea und ihre Ammen waren die Mütter von Jakows Kindern. G’tt mischt sich in Paarbeziehungen ein, durch das empfindlichste Thema: das Gebären von Kindern. Obwohl Lea von Jakow gehasst wurde, öffnete G’tt ihren Schoß und half ihr, Kinder zu bekommen, um die Liebe zwischen ihr und Jakow zu verstärken. Die beliebte Rachel hingegen wurde herabgesetzt, ihr Schoß blieb verschlossen.
Rachels Reaktion auf ihren Zustand ließ nicht lange auf sich warten. »Da Rachel sah, dass sie dem Jakow kein Kind gebar, beneidete sie ihre Schwester und sprach zu Jakow: ›Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich‹« (1. Buch Moses 30,1). Für Rachel war es eine Frage von Leben und Tod, ihr Leben war für sie ohne Kinder wertlos.
Auch Hanna stellt im Gebet die Situation ähnlich dar: »… und sagte zu G’tt: Zwei Welten hast Du in Deiner Welt geschaffen, in der oberen Welt herrscht Unfruchtbarkeit und Unsterblichkeit, und in der unteren Welt gibt es Fruchtbarkeit und Sterblichkeit. Falls ich zu der unteren Welt gehöre, werde ich fruchtbar und sterblich, und falls ich zu der oberen Welt gehöre, werde ich unsterblich« (Raschi zu 1. Samuel 1,11).
Auf den ersten Blick kann man sagen, der Kinderwunsch entspringt dem Willen zu geben und zu nehmen. Wenn ich meinen Kindern Wärme und Liebe, Bildung und Vermögen gebe, dann werden sie mir als Vater oder Mutter dabei helfen, respektvoll alt zu werden. Rabbi Jehoschua ben Levi zieht eine harte Schlussfolgerung aus Rachels Aussage. Er sagt: Jeder Mensch, der keine Kinder hat, gilt als gestorben, weil in der Tora steht: »Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich« (Nedarim 64, 2). Das Thema Fruchtbarkeit und der Kinderwunsch der Frau haben eine viel tiefere Ursache.
Rachel nennt ihren ersten Sohn nach seiner Geburt Josef, das heißt auf Deutsch »wird hinzugefügt«. Sie begründete das damit, dass G’tt ihr noch einen Sohn dazugeben wollte. Hanna legt ein Gelübde ab: »Ewiger der Heerscharen, wenn Du siehest auf das Elend Deiner Magd und meiner gedenkest und nicht vergissest Deiner Magd, und gewährest Deiner Magd männlichen Samen, so will ich ihn schenken dem Ewigen für all seine Lebenstage, und ein Scheermesser komme nicht auf sein Haupt.«
Hanna äußert nicht den Wunsch, ein Kind aufzuziehen, das sich in Zukunft um sie kümmern wird. Liebe kann auch der Mann geben, und medizinische und seelische Hilfe können auch andere leisten. In Hannas Aussage und in Rachels starkem Wunsch wird der Stellenwert der Geburt unterstrichen. »Der Verlauf des Lebens ist ähnlich wie der Faden des Lebens, der vom Vater auf die Kinder übergeht und bei demjenigen, der keine Söhne hat, endet auch der Faden seines Lebens, und er gilt als verstorben« (Kommentar von Tora Tmima).
Durch die Geburt zeigt die Frau ihren Wunsch, neue Generationen wachsen zu lassen und die Weltentwicklung fortzuführen. Hanna und Rachel wollten nicht aus privaten Interesse Kinder bekommen, sondern die Kinder sollen der Welt dereinst Gutes tun. Ziel der Eltern ist es, die Persönlichkeit des Kindes zu entwickeln, es darauf vorzubereiten, neue Generationen zu schaffen und den Faden des Lebens fortzusetzen.
Eine Frau aus einer typischen Familie mit zwei Kindern, einem Hund und einer Katze sah ihre Nachbarin, die bereits zum fünften Mal schwanger war, und fragte: »Wie viele Kinder wollen Sie denn noch haben?« Antwortete die Nachbarin: »Sechs Millionen!«

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund.

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