Marcus Schroll

»Mein Fach ist kreativ«

Mein Tag beginnt morgens zwischen fünf und halb sechs. Ich beschäftige mich mit der Tora, lerne eine halbe bis dreiviertel Stunde Talmud. Muss ich gleich in die Schule, bete ich auch noch zu Hause. Sonst gehe ich in die Gemeinde zum Morgengebet. Sobald ich im Büro bin, lese ich meine E-Mails und versuche, einen Teil davon sofort zu beantworten.
Ich bin Leiter des jüdischen Erziehungswesens der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Mein Arbeitsbereich ist ausgesprochen breit gefächert. Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe ist ein Teil, ich gebe Grund- und Leistungskurse an zwei Münchner Gymnasien. Grundlagen in Hebräisch werden bei den Teilnehmern vorausgesetzt, damit wir auch Quellentexte erschließen können. Der Unterricht ist konfessionsgebunden, der Zulauf ist gut: Im vergangenen Schuljahr nahmen 14 Schüler am Leistungskurs und zehn am Grundkurs teil, dieses Jahr waren es sieben Schüler im Leistungs- und fünf im Grundkurs. Ich unterrichte 17 Stunden in der Woche, dazu kommen Vor- und Nachbereitung. Eine meiner Hauptaufgaben für die Unterrichtsvorbereitung ist recht zeitaufwendig: Sie besteht darin, Texte aus verschiedenen Quellen zusammenzustellen und zu kopieren. Weil wir noch keine Lehrbücher haben, arbeite ich mit Readern.
Daneben habe ich die Aufsicht über das Fach »Israelitische Religionslehre«. Ich erstelle den Lehrplan, arbeite ihn aus und bin mit den Abiturprüfungen betraut. Als Berater für den jüdischen Religionsunterricht im Kindergarten und der Sinai-Grundschule hier in der Gemeinde bin ich ebenfalls tätig und daran beteiligt, Gottesdienste für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durchzuführen. Wenn es in irgendeiner Gemeinde Konflikte gibt, was den jüdischen Religionsunterricht angeht, stehe ich dem Kultusministerium als Ansprechpartner zur Verfügung. Darüber hinaus müssen Unterrichtsmaterialien angefertigt werden: Ein Schulbuchprojekt ist derzeit angedacht.
Mein Beruf ist für mich Berufung, weil es mir ein Herzensanliegen ist, die Schönheit und die positiven Grundwerte des Judentums der jüngeren Generation darzulegen. Judentum macht Spaß. Das ist auch meine Devise im Unterricht. Ich möchte meinen Schülern ein positives, lebendiges Bild des Judentums vermitteln. Das ist nichts, was man verstecken muss oder das verstaubt ist. Judentum ist etwas Positives, etwas Erfreuliches, etwas, worauf unsere Kinder und Jugendlichen stolz sein können.
Geboren und aufgewachsen in Weiden in der Oberpfalz, ging ich nach dem Abitur an die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Gleichzeitig studierte ich an der dortigen Universität Erziehungswissenschaften. In meiner Magisterarbeit im Fach Jüdische Philosophie befasste ich mich mit dem Denken von Hermann Cohen und Leo Baeck. Schon als Student unterrichtete ich in zwei jüdischen Gemeinden, in Weiden und in Regensburg. Nach meinem Abschluss 1997 hängte ich noch ein Studienjahr in Jerusalem dran. Von dort ging es als Rabbinatsassistent nach Düsseldorf, im März 2002 habe ich dann in München angefangen. Ich bin verheiratet, meine Frau und ich erwarten demnächst unser erstes Kind.
An Wochentagen gehe ich nach der Schule in mein Büro in der Gemeinde. Dann führe ich meist mit Eltern, Lehrern oder Schülern Gespräche. Es kommen Eltern zu mir, deren Kinder ein Problem an ihrer jeweiligen Schule haben. Oder die Schüler kommen selbst. Manchmal hat zum Beispiel einer den Eindruck, dass ein Lehrer Juden benachteiligt. Da versuche ich zu vermitteln. Manchmal gibt es auch im Lehrerkollegium Schwierigkeiten, und ich bemühe mich, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Nachmittags habe ich wieder Unterricht oder auch mal eine Fachsitzung mit dem Kollegium der Sinai-Schule. Ich treffe regelmäßig das Team des Kindergartens, mache auch Fortbildungen für die Erzieher des Kindergartens über religiöse Inhalte, denn das meiste Personal ist nicht-jüdisch. Wenn ich es schaffe, gehe ich zum Nachmittags- und Abendgebet in die Synagoge. Meist bleibt jedoch dafür keine Zeit. Dann bete ich zu Hause.
Oft werde ich von Lehrern anderer Konfessionen eingeladen, über das Judentum zu sprechen. Die Schüler untereinander sind ohnehin in ständigem Austausch, es gibt da immer wieder Diskussionspunkte. Ab und zu halte ich wegen des Lehrplans Rücksprache mit dem Kultusministerium, oder ich bereite Fortbildungen für die jüdischen Religionslehrer aus ganz Bayern vor.
Die Arbeit mit den Schülern, die Arbeit an der Basis, macht mir am meisten Spaß: verschiedene Themen, auch aktuelle, aus jüdischer Sicht zu beleuchten. Im Leistungskurs 12 hatten wir das Thema Talmud. Wir haben über seine Entstehung, Entwicklung und seinen Aufbau gesprochen. Meine Schüler wollten an konkreten Texten erfahren, wie man Talmud lernt, und da haben wir zum Beispiel über das Rauchen aus halachischer Sicht geredet. Wie sieht es damit aus? Oder wir betrachten die Stammzellforschung aus jüdischer Perspektive. Wann beginnt menschliches Leben? Darf man therapeutisch klonen? Das alles sind Fragen, die Schüler interessieren. Welche Bedeutung hat Kaschrut heute? Ist es ethisch vertretbar, MP3-Dateien aus dem Internet herunterzuladen? Wie geht man mit Tod und Trauer um? Darüber diskutieren wir.
Wir machen auch Exkursionen. Zum Beispiel waren wir auf Spurensuche auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Thalkirchner Straße. Praxisnaher Unterricht ist mir wichtig: Wir bereiten gelegentlich gemeinsam einen Schabbat-Gottesdienst vor – mit anschließendem Essen. Viele meiner Schüler kommen aus Zuwandererfamilien, ihre Eltern stammen aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus Israel. Aber es gibt auch »alteingesessene Münchner« Schüler, deren Familien seit zwei Generationen hier leben.
Die Arbeit am Lehrplan macht mir Spaß, ich habe mich dazu oft mit einem älteren Kollegen getroffen, der jahrzehntelang Lehrpläne für den evangelischen Religionsunterricht erstellt hat und schon mit meiner Vorgängerin zusammengearbeitet hat. Ich sehe, wie die Ansprüche, die wir als Lehrer stellen, immer wieder überprüft werden müssen in Bezug auf die Ansprüche, die die Schüler stellen. Der Lehrplan ist sozusagen ein Aufeinanderzugehen: Man trifft sich an einem bestimmten Punkt. Und es macht mir immer wieder Freude, neue Themen zu erproben. Der Lehrplan für das achtjährige Gymnasium wird sehr viel praxisbezogener sein als der bisherige. Gerade für das Fach Religion ist das sehr kreativ.
In meiner Freizeit lese ich viel. Mein Lieblingsschriftsteller ist Franz Werfel. Mir gefällt vor allem sein Gedicht Der Gute Ort zu Wien. Er beschreibt darin den jüdischen Friedhof in Wien als einen sehr widersprüchlichen Ort. Auch Heinrich Heine lese ich gern. Sein Gedicht Disputation, das von einem Theologenwettstreit handelt, ist eines meiner Lieblingsgedichte. Erich Mühsam mag ich ebenfalls, er hat ein berühmtes Gedicht über Chanukka geschrieben. Ich vergrabe mich aber nicht nur hinter Büchern: Meine Frau und ich machen viele Spaziergänge ins Grüne. Zum Glück wohnen wir nahe der Isarauen, da kann man wunderbar am Fluss entlanglaufen. Sehr gern höre ich Musik, vor allem klassische. Ich selbst spiele Klavier und singe auch. Zu meiner ersten Stelle in Weiden, schon zu Studienzeiten, gehörte die Tätigkeit als Kantor.
Womit ich sonst noch meine Zeit verbringe? Man sieht es mir unter Umständen an: Ich liebe gutes Essen. Und meine Frau kocht sehr gut. Wir sind beide Vegetarier und essen koscher – die Auswahl an Restaurants, die wir besuchen können, ist also begrenzt. Es gibt nur zwei koschere Lokale in München. Meine Frau und ich bereiten gemeinsam Schabbes vor, oft kommen dann auch Gäste zu uns. Unter der Woche komme ich meistens nicht dazu, Schularbeiten zu korrigieren, also bin ich oft am Sonntagvormittag damit beschäftigt. Sonntagnachmittag fahren wir dann vielleicht mal raus ins Münchner Umland. Am liebsten an den Starnberger See. Der hat es uns als Ausflugsziel angetan. Oder wir gehen wandern. Das ist das Schöne an München: Die Berge sind so nah.

Aufgezeichnet von Vera von Wolffersdorff

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