Bogotá

Kreplach in den Anden

von Hans-Ulrich Dillmann

Jahr für Jahr gilt bei den Vorbereitungen für Rosch Haschana im Haushalt von Marcos Peckel das Gleiche: Seine Mutter Debora übernimmt in der Küche ihres Sohnes das Kommando. Die 1918 in Danzig geborene alte Dame bereitet das Familienessen zu, so wie sie es in ihrer Jugend zu Hause gelernt hat. »Ohne den Gefilte Fisch meiner Mutter würde etwas bei unserem Festessen fehlen«, sagt Marcos Peckel. An die große weiß gedeckte Tafel im Esszimmer hat der 50-Jährige noch andere Familienmitglieder eingeladen. »Wie in den Jahren zuvor kommen meine Schwester mit ihrer Familie, meine Tochter und ein paar Freunde zum gemeinsamen Abendessen. Mein Sohn kann leider nicht kommen, er macht derzeit seinen Militärdienst bei Zahal«, erzählt Peckel, dessen Vater Alfred 1955 aus der Dominikanischen Republik einwanderte, wo er 1941 wie Hunderte weitere Juden Zuflucht gefunden hatte.
An der Speisenfolge »à la alemana« hat sich in den Jahrzehnten, seit die Familie die Hohen Feiertage in Lateinamerika begeht, wenig geändert: Es gibt eine Hühnersuppe mit Kreplach – »100 Prozent alemán«, wie Peckel versichert. Der Gefilte Fisch und ein im Ofen gebackenes Huhn kommen auf den Tisch, ebenso wie eine Auswahl von Gemüse und Kartoffeln in verschiedenen Variationen. Die Challe liefert der koschere Bäcker, der die Juden Bogotás mit seinen Backwaren versorgt. Dazu wird aus Israel importierter Carmel-Wein aus dem koscheren Supermarkt serviert. Als Nachtisch gibt es Strudel, Apfel mit Honig und gekochte Früchte, einige davon gibt es nur in Kolumbien.
Auch wenn die meisten Gerichte »typisch deutsch« seien, die an Rosch Haschana in seinem Hause auf den Tisch kommen, so Peckel, setze seine Mutter doch auch kolumbianische Akzente im Menü. Auf den Vorspeisentisch gehören Früchte: Papaya, Melonen und Pitaya gebe es und die Drachenfrucht mit ihrem saftig sämigen weißen Fruchtfleisch und den kleinen schwarzen Kernen, erzählt Peckel, der ein Textil- unternehmen betreibt und dem Centro Israelita de Bogotá (CIB) vorsteht.
An Erew Rosch Haschana werden sich die Mitglieder der drei Gemeinden der Stadt in ihren jeweiligen Synagogen zum Gebet versammeln. »Auch daran hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert«, sagt Peckel. »Danach fahren wir nach Hause und verbringen den Abend im Familienkreis.« Drei große Gemeinden haben sich in der 8-Millionen-Metropole etabliert. Dem aschkenasischen Centro Israelita de Bogotá gehören rund 1.500 Personen an, der 1939 von deutschen Juden gegründeten Asociación Israelita Montefiore knapp 600 und der Comunidad Ebreo Sefardí etwa 750.
Während sich die aschkenasische und die sefardische Gemeinde zum orthodoxen Ritus bekennen, gehört die Montefiore-Gemeinschaft der konservativen Bewegung an. »Aber eigentlich sind wir orthodox nur in der Gestaltung des Gottes- dienstes«, schränkt Marco Peckel die religiöse Ausrichtung des CIB ein. »Viele von uns sind Geschäftsleute, und in Lateinamerika wird durchgehend gearbeitet, auch am Samstag. Da kann man nicht immer den Schabbat so einhalten, wie es die religiöse Pflicht verlangt.«
Neben den drei Gemeinden in Bogotá gibt es jüdisches Leben noch in Cali (400 Familien), Medellin (40 Familien) und Baranquillo (200 Familien). Insgesamt, so Mar-cos Peckel, leben rund 5.000 Juden in Kolumbien. In allen Städten gibt es Gemein- dezentren und eigene Schulen für die Nachfahren der jüdischen Einwanderer. Viele sind vor der Schoa in das Land geflohen, das seit Jahrzehnten durch einen Krieg zwischen Guerillagruppen, der Armee und rechtsgerichteten Paramilitärs erschüttert wird.
Trotzdem ist Kolumbien Anziehungspunkt für Touristen aus Israel bei ihren Reisen durch Lateinamerika. Hunderte von »Mochilleros« genannten Rucksacktouristen ziehen durchs Land, um Naturschönheiten und die Sehenswürdigkeiten der Kolonialstädte zu besuchen.
La Candelaria ist ein Kleinod am Fuß einer Bergkette, die die Hauptstadt im Nordosten begrenzt. Wer einen Blick über die Dächer der fast 2.600 Meter hoch gelegenen Altstadt Bogotás wirft, schaut auf tonrote Dachpfannen, auf denen sich im Laufe der Jahre Moos angesiedelt hat. Karminrot und ockerfarben gestrichene einstöckige Kolonialhäuser mit gepflasterten Innenhöfen und Springbrunnen reihen sich an zweistöckige Bauten, an denen die Architekturgeschichte der vergangenen Jahrhunderte sichtbar wird. Frisch renovierte Jugendstilbalkone, moderne Kunstobjekte und hypermoderne Wandmalereien zeugen von einer aktiven Kulturszene. Abends sitzen Jugendliche auf den kleinen Plätzen, es spielt Musik, man tanzt und feiert.
Wer durch die Candelaria spaziert, ist zudem überrascht von der Zahl der hebräischsprachigen Jugendlichen. Sie wohnen in kleinen Pensionen, deren Besitzer jüdisch sind und deren Adressen sich bei den Rucksackreisenden schnell herumgesprochen haben. Nicht alle werben mit dem Magen David. Aber wer genau hinschaut, sieht die Mesusot an den Türen der meist einfachen Herbergen.
Das Centro Plaza Hotel von Jacobo bildet eine Ausnahme. Groß und weit sichtbar ist an den Wänden des grün gestrichenen Kolonialhauses mit den verwinkelten Innenhöfen der Davidstern angebracht. Bei Jacobo lassen sich die Gäste im hauseigenen koscheren Restaurant bewirten, nutzen den angeschlossenen Waschsalon und surfen im Internet-Café, das mit der Religionszugehörigkeit des Hotel-Inhabers wirbt.
Ein paar Häuserblöcke weiter betreibt Victor Daniel Berman ein Restaurant und Kulturzentrum. Jeden Freitagabend, wenn der in Argentinien geborene »Judío« mit dem israelischen Pass zu Kabbalat Schabbat lädt, verwandelt sich sein Haus in eine kleine Betstube. »In Buenos Aires habe ich mich mit meiner Kippa nicht auf die Straße getraut, hier trage ich sie jeden Tag, ohne belästigt zu werden«, erzählt Berman.
Das Restaurant L’Jaim Israeli in der Carretera 3, Haus-Nummer 14-79, unterscheidet sich im Baustil kaum von den anderen Gebäuden, lediglich die Fassadenfarbe ist anders: Auf dem Grundweiß heben sich blau gestrichene Tür- und Fensterrahmen ab, und an der Haustür weht eine kleine israelische Fahne. Zwei kleine Treppenstufen weiter glaubt sich der Besucher in Israel wiederzufinden. Über der Theke hängt eine große aufgemalte Flagge mit dem Magen David. An den Wänden Bilder aus Israel und Zeichnungen mit Chassiden. Auf dem Tresen eine Menora, davor liegt ein Schofar. Victor Daniel Berman will es an Rosch Haschana blasen.
Der Mittfünfziger mit der weißen Häkelkippa wird dann Gastgeber einer bunten Schar von Weltenbummlern sein, die die Hohen Feiertage nicht im Kreise ihrer Familien begehen. Ein traditionelles Festessen wie in jeder jüdischen Familie will Berman servieren. »Und vielleicht kommen auch ein paar Neugierige, die einfach erleben wollen, wie wir ›ein neues Buch‹ aufschlagen«, sagt Berman. »Wir empfangen jeden, der hier mit uns das neue Jahr begehen will.« Aber es werden wohl vor allem israelische Rucksacktouristen sein, die dann an dem weiß gedeckten großen Tisch sitzen, vermutet Berman. »Kolumbien ist bei israelischen Touristen absolut in. Das Klima, die Landschaft und die Menschen, davon scheinen die Israelis fasziniert zu sein.«
Im weniger touristischen Geschäftszentrum Bogotás stehen zum jüdischen Neujahrsfest auch die Türen eines kleinen Gemeindezentrums offen. Wie jedes Jahr la- den die drei in Bogotá ansässigen Rabbiner von Chabad Lubawitsch jene ein, die auf der Durchreise sind, berichtet Marcos Peckel. »An den Hohen Festtagen muss niemand allein bleiben. Das hat in unserer Stadt schon seit Jahren Tradition.«

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