Oskar Niemeyer

Kampf dem rechten Winkel

von Carl D. Goerdeler

Oscar Niemeyer ist ungefähr so charmant wie Marlon Brando als Don Vito Corleone. Der Pate und Guru der modernen Architektur hat es nicht nötig, Nettigkeiten zu verbreiten. In seinem Alter – am 15. Dezember wird er 100 – hat man für Petitessen keine Zeit. Und für lästige Besucher auch nicht. Die Medien lassen Niemeyer kalt. Für Nachruhm braucht er nicht zu sorgen, er hat ihn schon. Er ist ein Klassiker der Moderne: Über dreihundert Bauten in der ganzen Welt hat er entworfen.
Das Einzige, was für diesen Misanthropen noch zählt, ist die Botschaft an die Menschen: Wehrt euch gegen jeden Zwang! Und gegen den rechten Winkel. »Viel wichtiger als die Architektur ist das Leben, sind die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir verändern müssen!« – das ist die Überschrift seines Lebens.
Gegen den Terror des rechten Winkels. So hat es der Quadratschädel Oscar Niemeyer selber gehalten. Sein Leben verlief geradlinig auf den Kurven, die er liebt. Er hat sie täglich durch das Atelierfenster an der Avenida Atlântica vor Augen: die Frauen, die Wellen, die Bucht, die Berge an der Copacabana. Es war der große Le Corbusier, der ihm, dem Bürgersohn und Bohemien, an der Kunstakademie die Augen öffnete. Seither und bis heute zeichnet und strichelt Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho seine Bauten frei aus der Hand, ohne Lineal. Denn er ist ein Künstler, ein Schöpfer und kein Rechenknecht. Seine Knete ist der Beton. Daraus modelliert er seine Bauten und manchmal, eine ganze Stadt: Brasília, die Hauptstadt der Moderne, die viel gelobte Metropole des Dritten Jahrtausends, der Schreibtisch in der Steppe.
Der Staatsbaumeister Oscar Niemeyer, ist Kommunist, jawohl!, kein Jota abgestrichen. Darüber lässt er nicht mit sich diskutieren. Architektur heißt für ihn nicht, Häuser zu errichten und Profit zu maximieren. Architektur heißt, die Zukunft zu bauen! Zeichen zu setzen! Die Welt verändern! »Ich hasse diese Spezialisten, diese Fliegenbeinzähler, die sich nicht um das Elend in der Welt kümmern!«, bricht es aus ihm heraus. Mit Arbeiterwohnungen hat sich der Genosse allerdings nicht abgegeben. Aber die Zentrale der KP Frankreichs in Paris hat er erbaut, das brasilianische Verteidigungsministerium, unzählige Ministerien, Museen und Monumente, das Sambodrome in Rio de Janeiro (obwohl ein Samba tanzender Niemeyer unvorstellbar ist). Niemeyers Werkkatalog ist so umfangreich wie sein Leben lang.
»Die Architektur muss immer überraschen und Neugier hervorrufen, sonst taugt sie nichts«, murmelt der alte Mann. Dabei ist Oscar Niemeyer sich treu geblieben. Seine ersten Werke wie die Kirche in Pampulha würde er heute nicht wesentlich anders bauen. Glas und Stahl sind ihm so fremd wie der Gedanke, Gebäude müssten bequem wie eingelaufene Schuhe sein. Dass die Menschen in Brasilia, seiner Stadt, sich nicht an die vorgeschriebenen Wege halten und stattdessen eigene Trampelpfade treten oder sich – wie geschmacklos! – gestreifte Hollywoodmarkisen über die Veranda hängen, ärgert ihn. Der Mensch hat der perfekten Form zu folgen, und nicht umgekehrt.
Oscar Niemeyer wurde 1907 als Nachfahre eingewanderter deutscher Juden in Rio de Janeiro geboren; er besuchte die Escola Nacional de Belas Artes und trat nach seinem Architekturstudium 1934 in Kontakt mit dem Team von Lúcio Costa, dem damaligen Direktor der Kunstakademie und Verfechter der modernen Architektur. Dass in den dreißiger Jahren ausgerechnet Brasilien ein fruchtbarer Boden für die Entfaltung des Internationalen Stils wurde, war kein Zufall. Mit Getúlio Vargas stand ein Caudillo an der Spitze, der die »Republik der Großgrundbesitzer« in einen modernen Industriestaat umkrempeln wollte. »Ordnung und Fortschritt«, der Wahlspruch in Brasiliens Flagge hätte durchaus in die berühmte »Charta von Athen« gepasst, jenes Manifest aus dem Jahr 1933, in dem unter der Führung von Le Corbusier das ideologische Fundament für den modernen Städtebau, für die »funktionelle Stadt« gelegt wurde.
Das Musterbeispiel einer solchen funktionellen Stadt ist Brasília, die von Niemeyer entworfene neue Hauptstadt. In nur 1000 Tagen wurde sie aus dem roten Steppenboden gestampft und am 21. April 1960 als »Metropole des Dritten Jahrtausends« geweiht. Nie zuvor hatte ein Architekt schöpferisch so freie Hand gehabt, eine Utopie in Beton zu gießen, gewissermaßen lieber Gott zu spielen und eine Stadt für 400.000 Bewohner bis ins kleinste Detail zu planen. Brasília gleicht bis heute einem Gesamtkunstwerk. 1987 wurde die Stadt von der UNO zum Kulturerbe der Menschheit erhoben.
Manche Kritiker freilich empfinden Niemeyers Architektur eher als Terror der reinen Form, bei dem Menschen nur stören. So gut wie jedes Gebäude, das der Starbaumeister in Brasília entworfen hat, erfüllt zwar höchste ästhetische Ansprüche. Aber die Holztreppchen und die Hilfsgeländer, die man nachträglich (und gegen den Willen des Architekten) angefügt hat, um Abstürze der Besucher zu verhindern, sind verräterisch genug. Auch auf dem von der Piazza San Marco in Venedig inspirierten »Platz der Drei Gewalten«, dem Herzen der Hauptstadt, flankiert vom schönsten Parlamentsgebäude der Welt sowie dem schwebenden Justiz- und dem majestätischen Präsidentenpalast, hält sich in der Glut der Sonne niemand länger auf als unbedingt notwendig. Und Niemeyers jüngstes Werk, der Kunsttempel der Hauptstadt, liegt wie ein überdimensionaler Hefekloß auf einer grenzenlosen Betonplatte und erdrückt mit seiner Monumentalität die filigrane Kathedrale, sein Meisterwerk aus den 60er-Jahren. In ganz Brasilien liegen seine Stahlbeton-Raumschiffe (300 Berufsschulen in Serienbauweise) vor Anker: Die Lehrer beklagen sich über fehlende Wände und einen Höllenlärm – die Schüler über die Bullenhitze unter dem Stahlbeton. Für solche »Nebensächlichkeiten« aber hat der misanthropische Meister kein Auge.
Oscar Niemeyer, der große alte Mann der Architektur, der schon seit Jahrzehnten nicht mit sich diskutieren lässt, der in Brasilien als letzte Autorität in Sachen Architektur verehrt wird, hat alle neueren Entwicklungen überlebt. Seine Denkmäler hat er sich schon zu Lebzeiten gesetzt – Monumente einer Idee, die man nicht an der Wirklichkeit messen sollte.

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