Charedim

Kämpfen und Beten

Michael steht am Eingang des Rekrutierungsbüros der Armee, des Lischkat HaGius, in Jerusalem. Der Mann mit schwarzer Kippa und weißem Hemd versucht sein Anliegen den jungen Soldatinnen hinter der Tür zu erläutern. Mehrfach wird er vertröstet. Er will sich zur freiwilligen Unterstützung der Armee melden.

Der 36-jährige Familienvater erzählt, dass er vor acht Jahren aus Boston nach Israel gekommen ist. »Ich wollte hier eine Existenz aufbauen.« Er wohnt inzwischen in Jerusalem, lernt Tora und Talmud, arbeitet im Hightech-Bereich. Seit Beginn des Krieges am 7. Oktober habe er das Gefühl, dass er seinem Land beistehen muss, so Michael: »Das ist das Gebot der Stunde.« Er würde gern bei der Militärpolizei mitwirken, aber er würde seinen Dienst tun, wo immer sie ihn brauchen.

»Als ich hierherkam, dachte ich, es wäre wichtig, erst einmal eine Familie aufzubauen. Da war mir der Armeedienst noch nicht so wichtig. Aber jetzt wurde mir deutlich, dass wir überall um uns herum Feinde haben, die uns ermorden wollen. Also muss jetzt jeder etwas tun.«

freiwillige Michael ist einer von vielen. Allein in einer Woche sollen sich mehr als 2000 orthodoxe Männer zum Dienst gemeldet haben, erklärte kürzlich Armeesprecher Daniel Hagari: »Seit Beginn des Krieges erleben wir, dass sich Freiwillige aus allen Bereichen der israelischen Gesellschaft melden.«

Unterdessen kommt der 19-jährige Jeschiwa-Student Ezra aus dem Rekrutierungsbüro. Er hatte einen Termin, brauchte Papiere, die ihm bestätigen, dass er derzeit nicht zur Armee muss. Er lernt an der Jeschiwa »Ateret Hatora«. Aber das bedeute nicht, dass er in diesen Kriegs­tagen untätig sei, betont er. In seiner Jeschiwa würden derzeit Menschen aus Sderot verpflegt, die ihr Zuhause verlassen mussten und jetzt in einem Jerusalemer Hotel untergebracht sind. Und vor zwei Tagen hätten sie eine Simchat-Tora-Feier für die Menschen aus Sderot nachgeholt. »Die ist ja durch den Terror bei ihnen ausgefallen. So machten wir eine neue Feier, und die Menschen, von denen die meisten nicht religiös sind, haben gelacht und sich wirklich gefreut.«

Soldaten werden mit Lebensmitteln und Süßigkeiten versorgt.

Einige seiner Freunde aus der Jeschiwa seien auch schon in den Norden gefahren, um dort die Soldaten mit Lebensmitteln und Süßigkeiten zu versorgen. Er selbst habe Geld für die Armee gesammelt, ein Sponsor in seiner Heimatstadt habe 20.000 Dollar geschickt, berichtet er stolz.

»Ich glaube, ohne unsere Soldaten gibt es keinen Kampf, und ohne unser Lernen wäre Haschem nicht auf unserer Seite.« So wie von König David berichtet werde, sei für jeden Soldaten, der in den Krieg zog, ein anderer Mann abgestellt worden, der im Beit Midrasch für ihn gelernt und gebetet habe. »Auch ich habe einige aus meinem Familienkreis, die derzeit in der Armee sind, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, für jeweils einen von ihnen täglich zu lernen und zu beten«, so Ezra.

Nur einige Hundert Meter vom Jerusalemer Rekrutierungsbüro der Armee entfernt, liegen die Jeschiwot »Beer HaTalmud« und »Jakirei Jeruschalajim«. Hier scheint der Lehrbetrieb in diesen Kriegstagen uneingeschränkt weiterzugehen. Der Rosch Jeschiwa, Rabbiner Chanoch Cohen, steht inmitten seiner Schüler. Auf die Frage, ob man in dieser Situation lernen oder kämpfen sollte, verweist er auf die Gemara und sagt: »Wenn man sich hier nicht der Tora widmet, gibt es keinen Erfolg im Krieg.«

Mit dem Jerusalemer Rabbiner Benny Lau werden in diesen orthodoxen Jeschiwot die wenigsten einer Meinung sein. Schließlich ist er einer der prominentesten Vertreter des zionistisch-religiösen Lagers in Israel. Er meint, dass nur eine sehr kleine Gruppe des jüdischen Volkes die Aufgabe der Toralernens statt des Kampfes in Zeiten des Krieges ausüben sollte. »Der Halacha zufolge – von der Mischna bis zu Rambam – muss jedermann kämpfen, der dazu in der Lage ist.« Wer nicht kämpfen könne, müsse den Menschen an der sogenannten Heimatfront helfen. Und dann gebe es eine ganz besondere Gruppe, die von allem befreit sei, um die Moral mit Toralernen und Gebeten aufrechtzuerhalten. Dies sei vielleicht vergleichbar mit dem Stamm Levi in biblischen Zeiten: »Ihr Toralernen gibt auch den Kämpfern sehr viel Hoffnung und Glaube.«

Rabbiner Lau erzählt im Gespräch mit dieser Zeitung, dass über den ersten Krieg, von dem die Tora berichtet, im Wochenabschnitt »Lech Lecha« am vergangenen Schabbat gelesen wurde. »Dort hört Awraham, dass der Sohn seines Bruders Lot in Geiselhaft genommen wurde. Und Awraham nimmt 318 Männer seines Hauses und verfolgt einen Plan in einer sehr militärischen Art und Weise, um die Geisel zu befreien.« Es gebe moralische Werte, um die gekämpft werden müsse, beispielsweise wenn es um einen Feldzug gegen das Böse geht. »Und so wird der Krieg zu einem gerechten Krieg.«

Zurück zu den Charedim in Israel heute: Nechumi Yaffe, Politikprofessorin an der Universität Tel Aviv, beschäftigt sich mit dieser Gruppe, die in Israel derzeit etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Yaffe stammt selbst aus einer orthodoxen Familie und erläutert, dass ein kleiner Prozentsatz der Charedim den Staat Israel und seine Institutionen ablehnen. Schätzungsweise seien dies weit weniger als zehn Prozent.

Bemerkenswert sei, dass ein immer größer werdender Teil der charedischen Bevölkerung nach Wegen suche, sich in die israelische Gesellschaft und deren Institutionen zu integrieren. Bei der letzten Umfrage waren dies 23 Prozent, es dürften jetzt durch den Krieg jedoch noch mehr werden, meint Yaffe. »Dies betrifft nicht nur die Integration in den Arbeitsmarkt, sondern auch andere Bereiche, wie die Armee.« Dieser Trend halte an, die Zahlen steigen, besonders jetzt im Krieg. »Immer mehr sind davon überzeugt, dass wir eine Armee brauchen, und sie wollen einen Beitrag leisten.«

ausnahmen Bei der Gründung des Staates Israel einigte sich Premierminister David Ben-Gurion mit Vertretern religiöser Parteien, dass Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst befreit werden, damit sie ihre Torastudien fortsetzen könnten. Damals waren es nur wenige Hundert, ihre Zahl wuchs mit der Zeit immer mehr. Derzeit sind charedische Männer, die bis zum Alter von 26 Jahren in einer Jeschiwa lernen, während des Studiums und auch im Anschluss von der Wehrpflicht befreit.

Vor wenigen Jahren erklärte der Oberste Gerichtshof dieses Verfahren für nicht rechtskonform, verschiedene Regierungen waren seitdem nicht in der Lage, eine neue Regelung zu finden, auf die die religiösen Parteien drängen. Die weiterhin praktizierte Befreiung vom Wehrdienst wird nicht nur von säkularen, sondern auch von vielen religiösen Jüdinnen und Juden immer wieder heftig kritisiert. Manche verweisen dabei auf die Stelle in der Tora, als Mosche den Angehörigen zweier Stämme zuruft: »Eure Brüder sollen in den Kampf ziehen, und ihr wollt hierbleiben?« (4. Buch Mose 32,6).

Ist die derzeitige Lage eine Chance, die tiefen Gräbern in der Gesellschaft zwischen strengreligiösen und säkularen Israelis zu überbrücken? Dazu Nechumi Yaffe: »Wenn die charedische Gemeinschaft sich weiterhin verändert, wird der Hass nicht verschwinden, aber vielleicht wird es einige Streitpunkte weniger geben. Und das Wichtigste ist, dass man einander wieder näherkommt.«

Viele junge charedische Männer sind vom
Wehrdienst befreit.

Bezalel Cohen, charedischer Aktivist, kennt die Verhältnisse in der ultraorthodoxen Gemeinschaft sehr gut. Er arbeitet schon seit Jahren zum Thema, betreibt auch einen eigenen Blog und verschiedene Initiativen für Charedim in Israel. Dass es immer mehr Strengreligiöse gibt, die Teil der israelischen Gesellschaft sein wollen, sei ein schon seit 20 Jahren bekanntes Phänomen, meint er. Doch waren die Erwartungen immer größer, als die Realität dann zeigte.

Er erläutert, dass die Charedim etwa zu 60 Prozent traditionell und zu 40 Prozent etwas moderner orientiert seien. »Wir reden hier bei der Diskussion um den Militärdienst von den 40 Prozent. Und wenn sich von ihnen etwa 2000 Männer melden, die in irgendeiner Art und Weise die Armee unterstützen wollen, ist das erfreulich, aber doch eine sehr kleine Zahl.« Bei den 2000 handelt es sich auch meist um verheiratete Männer.

Cohen sieht in absehbarer Zeit keinen Paradigmenwechsel. Er glaubt nicht, dass sich beispielsweise die Mehrheit der 18-Jährigen aus der ultraorthodoxen Gemeinschaft zum regulären Wehrdienst melden würde.

»ERDBEBEN« Rabbiner Benny Lau hingegen meint, dass das Massaker vom 7. Oktober eine Art geistiges Erdbeben ausgelöst habe. Noch vor wenigen Wochen sei klar gewesen, dass Pogrome nur im Ausland geschehen. »In Israel fühlte jedes Mitglied des jüdischen Volkes Schutz und Sicherheit. Eine Art Versicherung.« Der blutige Angriff der Hamas habe eine Gewissheit zerstört, dafür die uralte Erkenntnis von der Verantwortung des Volkes für sein eigenes Schicksal wieder ins Bewusstsein gerufen. Daher würden jetzt die verschiedenen Ideologien, wie die der Charedim gegen den Zionismus, an die Seite rücken. »Jetzt geht es um den Schicksalsbund des jüdischen Volkes.« Die Streitigkeiten würden nicht verschwinden, sondern bis nach dem Ende des Krieges vertagt, ist Lau überzeugt.

Simcha ist am Freitagnachmittag in Jerusalem unterwegs. In Zivil. Die Zizit trägt er über dem weißen Hemd. Das Gewehr hängt über der Schulter. Er hat ein paar Stunden frei, ansonsten trägt er Uniform, dient in einer Rettungs- und Bergungseinheit der Armee. Er meint: »Charedim und Armee sind eins. Es gibt die Armee des Volkes, und die Charedim gehören zum Volk.«

Und Michael, der sich freiwillig zum Dienst melden will, meint: »Wir sind doch schließlich alle Juden. Ich komme aus einer traditionellen Familie, habe mich mit der Zeit immer mehr der Tora verbunden gefühlt. Und jetzt sehe ich, vor welcher großen Aufgabe unser gesamtes Volk gemeinsam steht. Und da muss jeder seinen Beitrag leisten.«

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